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Essay – Konstruieren neu denken

erschienen in
Zuschnitt 38 Holz trägt, Juni 2010
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Stichwort »Konstruktion«: Vor dem geistigen Auge erscheinen die großen Ingenieurbauwerke des 19. Jahrhunderts. Die Bilder kommen ungerufen, ohne bewusstes Zutun. Anderen geht es übrigens auch so, ich habe es überprüft. Unwillkürliche Assoziationen verraten etwas über die eigene Prägung.

Was ist so bemerkenswert daran, wenn man im Zusammenhang mit Konstruktion an Sprengwerke, Gerberträger, Raumfachwerke, Pendelstützen, Gelenkbögen, Hängewerke, Gitterschalen oder das Zollingerdach denkt? Nichts. Bemerkenswert ist, woran man nicht denkt – und das sind Gebäude. Das 19. Jahrhundert hat uns die Dissoziation von Konstruktion und Gebäude beschert, im Bauen ein historisches Novum. Bei der konstruktiven Extravaganz der Gotik konstatierten die Zeitgenossen sicher nicht mit sezierendem Blick: »Aha, outside construction!« Sie staunten darüber, wie nahe ihnen das Gebäude den Himmel gebracht hatte. Konstruktion und Gebäude waren im Raumerlebnis untrennbar eins. Oder man denke an die ausgefallenen Durchdringungen eines Borromini oder Guarini, Verschmelzungen von Raum und Geometrie. Diese Synthese galt in spezifischer Weise auch für Holzbauten, für ihre enge Verbindung von interner Raumorganisation und Konstruktion, seien es norwegische Stabkirchen, die Katsura-Villa, die norddeutschen Hallenbauten oder jedes beliebige Patrizierhaus.

Es scheint naheliegend, die Ursachen dieser Dissoziation bei der rasanten Karriere des Leichtbaus im 19. Jahrhundert zu suchen, zumindest soweit er Skelett und Bekleidung bzw. Ausfachung trennt – nur dass diese Trennung seit je für die Stabkonstruktionen konstitutiv gewesen ist. Was hat sich also geändert?

1.) Mit der Entwicklung der Baustatik wird die zuverlässige Berechnung von Tragwerken, d. h. der ökonomische, gewichtssparende Einsatz von Material möglich, die conditio sine qua non für die Überbrückung immer größerer Spannweiten. Dieser Maßstabssprung schlägt sich in neuen Gebäudetypen nieder, vor allem aber sprengt er die überkommenen Zusammenhänge zwischen Raumorganisation und Konstruktion.

2.) Die konstruktiven Innovationen des 19. Jahrhunderts, die Entwicklung von neuartigen Tragwerken wie dem Gelenkbogen oder der Übergang von der Zusammensetzung räumlicher Strukturen aus ebenen Flächen in eine echte Dreidimensionalität wie bei den Raumtragwerken von August Föppl oder der Schwedlerkuppel fanden zwar im Stahlbau statt, Otto Hetzers geleimte Brettbinder erlaubten es aber in der Folge, zugbeanspruchte weitspannende Konstruktionen auch in Holz auszuführen. Selbst wenn die Kraftlinien solcher Tragwerke brav dem Faserverlauf folgen, sind diese keine originär holzspezifischen Konstruktionen: Auch andere Materialien können dafür verwendet werden, was aus Kostengründen ja häufig genug geschieht. Damit löst sich der im Holzbau zuvor besonders enge Zusammenhang zwischen Material und Konstruktion auf.

3.) Ebenfalls ein Erbe des 19. Jahrhunderts ist die Aufspaltung der Aufgaben des Baumeisters in die uns heute so selbstverständlich scheinende Arbeitsteilung zwischen Architekt und Ingenieur. Selbst die von Karl Culmann entwickelte Graphostatik, die noch auf anschaulich-zeichnerischem Wege die im Bauwerk wirksamen Kräfte ermittelt, war nicht mehr Sache der Architekten. Die getrennten Zuständigkeiten für das Lasten und Tragen auf der einen Seite und für den Raum und die Ästhetik auf der anderen erlauben die Verselbstständigung des Entwurfs gegenüber der Konstruktion. Dank digitaler Entwurfswerkzeuge können heute, befreit von jeglicher Materialität, geometrisch komplizierte Formen generiert werden, Raum pur sozusagen.

Im materialspezifischen Entwerfen und Konstruieren wird die verlorene intrinsische Beziehung von Form, Konstruktion und Material beschworen und das Wiederzusammenführen all dessen, was sich dissoziiert hat, gesucht. Der Ruf nach Materialgerechtigkeit ist nicht neu, man erinnere sich nur an die Arts-and-Crafts-Bewegung, die einen Damm gegen die Flut industriell produzierter Halbzeuge errichten wollte. Die Flut hat dies, wie man weiß, wenig gekümmert. Historische Prozesse sind eben nicht revidierbar, man muss – Fall für Fall – neue Synthesen suchen. Genau dieser Prozess ist es, den die aktuellen Experimente im Holzbau signalisieren. Ihre Heterogenität spiegelt die vielen Freiheitsgrade wider, welche die beständige Materialfortschreibung und die avancierten Fertigungstechniken beinhalten. Sie betreffen nicht nur, aber in besonderem Maße das Holz mit seiner wachsenden Familie an Holzwerkstoffen, deren Extreme Vollholz und Faserplatte nichts mehr miteinander gemein haben außer der chemischen Zusammensetzung.

Es lassen sich zwei grundsätzliche Richtungen ausmachen: Der neuere Massivholzbau – ein für die kartenhausartige Plattentektonik nicht besonders passender Name – beschreitet konstruktives Neuland. Ob daraus eine neue Synthese von Form, Material und Konstruktion entsteht, muss sich erst empirisch erweisen. Auch die verblüffend schlichte Übereinstimmung von Konstruktion und Gebäude, die der Massivholzbau mit sich bringt, ist ohne historisches Vorbild. Woran es fehlt, ist das Raumerlebnis. Auf diesen Mangel reagieren die vielen Versuche, die Flächigkeit der Platten zu neuen, bisher eher formal als funktional motivierten Raumstrukturen zu kombinieren. Demgegenüber sucht der zweite Weg mit komplizierten Tragwerken aus plastischen, doppelt gekrümmten individuellen Bauteilen, ein, man möchte fast sagen, barockes Raumerlebnis. Die geistige Verwandtschaft mit Paolo Portoghesis Moschea di Roma ist nicht zu übersehen. Solche Konstruktionen erinnern in der Lastabtragung noch entfernt an die alten Stabkonstruktionen, in Bezug auf die freie Plastizität der Form sind sie im Holzbau etwas Neues. Fast: An dieser Stelle darf der Verweis auf Frei Ottos Gitterschalen nicht fehlen, deren Form jenseits einer Rhetorik des Konstruktiven in der Ausbalancierung der Kräfte gefunden wurde und deren Konstruktion sich die spezifischen Eigenschaften von Holz zunutze macht – ein Vorbild für eine neue, gelungene Synthese von Form, Konstruktion und Material.

Erschienen in

Zuschnitt 38
Holz trägt

Holz trägt zur Gestaltungsfreiheit bei und macht Lust aufs Konstruieren. Ob flächig oder stabförmig, gerade oder gekrümmt – dank einer fortlaufenden Materialentwicklung und avancierter Fertigungstechniken weisen Konstruktionen aus Holz eine immer größere Formenvielfalt auf.

8,00 €

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Zuschnitt 38 - Holz trägt