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Geleitete Linden

„Geleiteten Linden“ (gestutzt, in die Breite gezogen) waren ab dem 10. Jahrhundert in Nord- und Mitteldeutschland und der Schweiz als Versammlungs- und Gerichtsorte Bestandteil dörflicher Identität.

erschienen in
Zuschnitt 13 Holz hebt ab, April - Juni 2004
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Die Magie der Bäume. Ihre Rinde, ihr Duft, ihre Früchte und der Schatten, den sie spenden. Ein Genuss, der noch wächst, wenn man sie besteigt, und der ver-vollständigt wird durch die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit beim Klettern, durch die Aussicht, durch die Distanz zu den "am Boden Gebliebenen", durch den Nervenkitzel, den die Höhe verursacht, durch die Gleichzeitigkeit von Schutz und Gefahr.

Diese sinnlichen Erfahrungen, gepaart mit dem mythologischen Überbau des germanischen Kulturkreises, dürften der Hintergrund der "geleiteten Linden" oder "Stufenlinden" sein, wie sie seit dem 10. Jahrhundert von Nord- über Mitteldeutschland bis in die Schweiz nachweisbar sind und zum Teil bis ins 20. Jahrhundert als Versammlungs- und Gerichtsorte Bestandteil dörflicher Identität waren.

Eine Linde wurde gepflanzt. Entweder am Dorfplatz oder an einem kultisch bedeutsamen Ort. Ihre Zweige wurden von Beginn an geleitet, gestutzt, in die Breite gezogen. Ein lebendes Bauwerk entstand. Der Boden rund um den Stamm wurde geglättet, Erde abgetragen oder aufgeschüttet, rundherum wurden niedrige Stützmauern oder, wo diese nicht notwendig waren, Steinwürfel gesetzt, darauf Pfosten beziehungsweise Pfeiler, verbunden durch Querbalken, welche die Last der nicht mehr selbsttragenden Äste aufnahmen. Ein weit ausladendes, dichtes Laubdach war das Ergebnis, wobei man sich vielfach nicht mit einem Astschirm begnügte, sondern darüber einen oder mehrere weitere waagrechte Kränze mit nach oben hin abnehmenden Durchmessern zog. Darüber ließ man den Wipfel frei wachsen oder schnitt ihn kugelförmig zu.

Weiterbauen. An Höhe gewinnen. Die Kraft des Baumes zügeln und auf den Menschen übertragen. Eine besondere Gruppe unter den Stufenlinden sind diejenigen, auf deren Ästen Plattformen errichtet wurden. Ihre Existenz ist seit dem 16. Jahrhundert belegt. Dabei bildete der untere, mit Brettern belegte Astkranz den Boden, der nächst höhere das Dach. Auf diesen über Leitern oder Treppen zugänglichen Podien saßen bei den Dorffesten die Musikanten, oder es wurde auf ihnen getanzt. Entstanden ist der Brauch aus Frühlingsritualen der Germanen, die den Baum als "Dämon der Vegetation" und als Symbol für Fruchtbarkeit und Wachstum betrachteten.

Hinweise darauf gibt es im "Parzival" von Wolfram von Eschenbach (1200) und im "Ruodlieb", dem ersten in Deutschland in lateinischer Sprache geschriebenen Roman aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Bis ins 20. Jahrhundert wurden Stufen- und Tanzlinden in Deutschland gepflegt, bespielt und auch noch gepflanzt. Eine der beeindruckendsten war die Große Linde in Peesten, die 1657 im Zusammenhang mit dem Bau einer hölzernen Stützkonstruktion erstmals erwähnt wurde. Ihre beiden unteren Astkränze bildeten einen geschlossenen, rechteckigen Saal von beinahe 100 Quadratmetern. Sein Boden war mit Eichenbrettern belegt, die Seitenwände hatten zwei Fensterreihen und bestanden aus Eichenfachwerk, das von den um-gebogenen Zweigen der Linde bedeckt war. Auf diesen Tanzboden führte ab 1837 eine steinerne Wendeltreppe mit 22 Stufen. Bis 1920 wurde hier zur Kirchweih getanzt, danach konnte der Raum wegen Baufälligkeit nicht mehr benutzt werden.

Das Tanzen am Baum - so geregelt es stattgefunden haben mag - ist natürlich ein Akt des Übermuts, ein Rausch der Sinne: Die Drehung beim Tanzen, die Höhe am Baum, der intensive Geruch der Linden sind schon für sich alleine Schwindel erregend. Gemeinsam erlebt verändern sie die Wahrnehmung und so betrachtet staunt man weder über die Tatsache, dass der Lindentanz als Heiratsmarkt fungierte noch über die Rede-wendung "am Boden bleiben", die uns vor allzu großem Realitätsverlust bewahren will. Es ist ein Austausch, der mit der Zähmung des Baumes einhergeht, eine Ver-lagerung seiner Energie aus den gebundenen Zweigen der Linde, in den Menschen, eine Art der Nutzbarmachung des lebenden Holzes aus der Erkenntnis seiner Kraft.

Diesem Text liegt folgender Fachartikel zu Grunde:

Rainer Graefe
"Geleitete Linden", in:
Daidalos Nr. 23, "Baum und Architektur", Bertelsmann, Gütersloh 1987 (vergriffen)
Eine Buchveröffentlichung von Prof. Graefe über geleitete Linden ist in Vorbereitung.

2001 wurde die Tanzlindenlaube in Peesten durch das Institut für Baukunst, Bau-geschichte und Denkmalpflege der Universität Innsbruck (Univ.Prof. Mag.Dr. Rainer Graefe) in Zusammenarbeit mit dem "Förderkreis Tanzlinde Peesten" (DI Thomas Glötzl, Arch. Volker Lauterbach) rekonstruiert.

Tanzlinde Peesten

Erschienen in

Zuschnitt 13
Holz hebt ab

Auch im städtischen Bereich ist Holz auf der Höhe: Bei Aufstockungen, Zu-, Um- und Aufbauten, wo Holz und Holzwerkstoffe nicht nur aus statischen und verarbeitungstechnischen Gründen eingesetzt werden. Zuschnitt beleuchtet den Materialsprung in der Stadt über der Stadt und die Veränderungen urbaner Dachlandschaften durch die Bearbeitung von Grundstücken an der »Steingrenze«.

8,00 €

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Zuschnitt 13 - Holz hebt ab