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Der Baum
Statisches System eines Naturtragwerks

Das Astwerk eines Baumes kann durch die Formgesetze mit seiner Struktur und mit einem Minimum an Aufwand zwei Aufgaben erfüllen: die eines Tragwerks und die eines Transportsystems.

erschienen in
Zuschnitt 19 warum stabil?, September 2005
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Die Natur ist ein unerschöpfliches Arsenal an »lebendigen Strukturen«, deren Analyse auch eine wichtige Quelle zur Erforschung, Beschreibung und Beurteilung von Tragstrukturen ist. Aus Gemeinsamkeiten und Gegensätzen von Prozessen und Produkten natürlicher Entwicklung und menschlicher Tätigkeit entstehen Fragen und Feststellungen, die den Inhalt der Analyse von natürlichen Tragstrukturen bestimmen.

Die Erkenntnisse allgemeiner Grundsätze und gemeinsamer Konstruktionsprinzipien in Natur und Technik sind eng verknüpft mit Fortschritten in der Biologie, der Medizin und nicht zuletzt der Technik selbst, und schon aus der Betrachtung weniger Beispiele aus der Vergangenheit ergibt sich die Frage, ob wir Naturkonstruktionen als Vorbilder für unsere technischen Konstruktionen ansehen können.

Beinhalten die Begriffe »Stütze« und »Balken« ein Aussage über Form und Belastung eines Tragelements, so bezeichnet der Begriff »Verzweigung« ein Formcharakteristikum. Stütze und Balken sind beide »eindimensionale« Objekte; die Stütze trägt ihre Lasten hauptsächlich über Druck, der Balken über Biegung ab. Verzweigte Strukturen bauen sich aus eindimensionalen Bauelementen auf. Ausgehend vom eindimensionalen Hauptstamm entsteht durch Verzweigung und Verästelung eine flächige »zweidimensionale« oder eine räumliche »dreidimensionale« Struktur. Hat eine solche Struktur eine Tragfunktion, kann sie je nach Lastabtragung als Addition von Stützen, von Balkenelementen oder, wie beim Baum, als Verschmelzung beider zu einem einheitlichen Gesamtsystem angesehen werden. Einerseits ist es günstig, die Kräfte direkt und ohne Umwege zu führen, andererseits ist es massesparend, möglichst viele Kräfte zu bündeln und konzentriert weiterzuleiten. Unter bestimmten Bedingungen ist wiederum ein verzweigtes System das Optimum.

Dies gilt für ein druckbeanspruchtes Stützen- und für ein biegebeanspruchtes Balkensystem. Das Astwerk eines Baumes – selbstbildende, offene Verzweigungen durch Aufspaltung eines gemeinsamen Stammes in mehrere Äste – kann durch die Formgesetze mit ein und derselben Struktur und mit einem Minimum an Aufwand beide Aufgaben erfüllen: die eines Tragwerks und die eines Transportsystems.

Ausschließlich druckbeansprucht ist die nach oben weit verzweigte, eine Deckenplatte gleichmäßig unterstützende »Baumstütze«. Die Kräfte werden unter Vermeidung von Biegung harmonisch von der Fläche zu den einzelnen Auflagerpunkten geführt. Der Gegensatz zwischen linearer Stütze und flächiger Platte wird weitgehend aufgehoben. Das statische System Decke/Stütze wird dadurch zu einem einheitlichen Ganzen.

Druckbeanspruchtes Stützensystem

Druckbeanspruchtes Stützensystem

Biegebeanspruchtes Balkensystem

Biegebeanspruchtes Balkensystem

Leichte »Baumstütze« Seifenblasen-Schaummodell

 

Leichte »Baumstütze« Seifenblasen-Schaummodell


verfasst von

Richard Woschitz

Erschienen in

Zuschnitt 19
warum stabil?

Erfahrungen, Experimentierfreudigkeit und Fantasie haben seit Jahrhunderten funktional optimierte, faszinierend leichte und fragile Bauwerke entstehen lassen, deren konstruktive Stärke im Wissen um das Wesen des Materials begründet ist, in der vollen Ausschöpfung der Kapazitäten des Holzes, seiner Leichtigkeit, Festigkeit, Weichheit, Gerichtetheit und Nachgiebigkeit, und deren Authentizität bis heute spürbar und inspirierend ist.

8,00 €

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Zuschnitt 19 - warum stabil?