Zum Hauptinhalt springen

Weiße Blätter vom Baum der Erkenntnis
Ein kleines Papier zur Philosophie des Papiers

Auch wenn weiße Blatt Papier technisch bald schon von „e-ink“ überholt sein mag, könnte es sich dennoch als eine Erfindung mit Ewigkeitswert herausstellen. Zumindest aus metaphorischen Gründen.

erschienen in
Zuschnitt 28 Papier ist Holz, Dezember 2007
Sie besuchen eine Archiv-Seite. Möglicherweise sind nicht alle Darstellungen korrekt.

Sie haben vor einer halben Sekunde begonnen, einen Text zu lesen, der in schwarzen Lettern auf weißem Papier gedruckt vor Ihren Augen liegt und sich anschickt, das gewohnte Verhältnis von Text und Papier auf den Kopf zu stellen. Denn Papier ist dafür gemacht, den Text zu tragen, ihn erscheinen zu lassen, hervortreten zu lassen und den Augen ebenso wie dem Verständnis zu präsentieren. Dieser Text aber will das Papier hervorheben, seinen eigenen Träger zum Getragenen machen, den Präsentator ins Präsentierte verwandeln.

Sie sind eingeladen, sich in die engste mögliche Reflexionsschleife einzuklinken, in das Bedenken des Papiers von seiner Beschriftung her. Das Weiße soll zwischen den Buchstaben hervorleuchten als das vom Text Transportierte. Von seinem Medium erzählt diese Botschaft.

Das ist eine Art Sklavenaufstand, wenn auch ein harmloser. Die Erhebung des dienenden Materials zum herrschenden Sinn ereignet sich nur in diesem Textpapier und nur zwischen Druckerschwärze und weißem Untergrund. Jeder ist für fünfzehn Minuten berühmt, sagte Warhol. Lassen wir heute dem Papier den Hervortritt. Damit auf dieser Welt wenigstens einmal das Lichte das Dunkle besiegt. Lese ich das Wort »Papier«, kommt mir als erstes das Bild eines weißen, rechteckigen, äußerst flachen Gegenstands vor Augen, dessen bevorzugte Bestimmung es ist, schwarze Buchstaben zu tragen, manchmal zusätzlich auch Bilder. Diese meine Vorstellung vom »klassischen« Fall eines Papiers hält jedoch einer Überprüfung an der Realität des Alltags nicht stand. Die erweiterten Möglichkeiten von Computergrafik und digitalen Drucktechniken haben zwischen Schwarz und Weiß allerlei Tönungen und Schattierungen etabliert, die oft ununterscheidbar machen, was an der Oberfläche des Papiers Untergrund und was Aufdruck ist.

Die Computerisierung lässt somit nicht das Papier als Material verschwinden, im Gegenteil. Nur seine Oberfläche ist immer seltener die hintergründige Kontrastfolie der bedruckten Zonen. Zusätzlich zu den Schriftzeichen und Bildern legen sich »Layer« der Layout-Grafik flächendeckend über das Blatt. Diese drei blattfüllenden Instanzen bringen all jene wahrnehmbaren Differenzen, in denen die Bedeutung verankert ist, untereinander hervor, ohne länger das reine Papier dafür als kontrastierenden Hintergrund und Leerraum in Verwendung zu nehmen. Die Menge des Papiers wächst, seine materiale Sichtbarkeit an der Oberfläche jedoch schwindet. Die vom Bleisatz geprägte Ästhetik des Schwarz-Weiß ist nur noch ein formales Zitat aus der Ära der »Gutenberg-Galaxis«. Noch lebt sie fort in jenen Laserdruckern unserer Büros, die nur schwarzweiß drucken können.

Ist das rechteckige weiße Blatt Papier eine vom Aussterben bedrohte Spezies? Auch wenn es technisch bald schon von »e-ink« überholt sein mag, könnte es sich dennoch als eine prinzipiell unüberbietbare Erfindung mit Ewigkeitswert herausstellen. Wenn nicht aus praktischen, so aus metaphorischen Gründen. Das Wort »Begreifen« erinnert uns daran, dass das Gehirn nicht isoliert arbeitet, sondern seine Leistungen gemeinsam mit Organen, Werkzeugen und den Erinnerungsspuren der Außenwelt erbringt. Beschriebenes Papier ist die stabilisierte und zugleich minimierte Form, Gedanken in Dingform bringen, in die Hand nehmen, ablegen und jemandem geben zu können. Worin Papier jedes elektronische Medium unersetzbar überbietet, ist seine Kompetenz für die meta- phorische Geste der Veräußerlichung, des Vor-sich-Bringens, der Objektwerdung und Verkörperung des »Geistes«. Denn egal, wie dünn, weich, groß, leicht und hochauflösend das elektronische Papier werden wird, die darauf erscheinenden Zeichen bleiben in jenem Status des Möglichen, der sie dem bloß Gedachten sinnbildlich ähneln lässt. So ist es auch nicht bloß der ehemaligen Technik des Bleisatzes und ihren Traditionen zu verdanken, dass wir noch immer schwarze Buchstaben auf weißes Papier schreiben, obwohl dem Auge mildere Kontraste angenehmer sind. Es ist vielmehr die Abstraktion, das Auseinanderziehen, scharfe Trennen und Polarisieren, das der Versprachlichung der Welt, ja ihrer klaren geistigen Erfassung, formal entgegenzukommen scheint. Schwarz-Weiß ist Sinnbild jener Bilderlosigkeit, in der sich der Gedanke als rein sprachlicher vor sich bringen und zum Gegenstand machen möchte. Das weiße, rechteckige Blatt Papier kommt diesem Begehren bestens entgegen. Hat es doch in sich alle Spuren seiner Entstehung abgestreift, um spurlos rein sich ganz dem Gedächtnis neuer Spuren und Zeichen anzudienen. Es gibt kein zweites Holzprodukt, das so versessen wäre aufs Vergessen seiner Herkunft, dem es mehr um die Verabsolutierung des Künstlichen geht.

Die Summe aller Farben ist Weiß, doch diese Summierung endet in der Negation von Farbe überhaupt. Nur aus reinem Licht und dessen regelhafter Unterbrechung durch sein Gegenteil, das lichtschluckende Schwarz, soll eine Textseite bestehen, damit der Geist sich darin spiegeln kann. Den Kult, Buchstaben schwarz auf weißes Papier zu drucken, verstehen wir besser, seit Malewitsch sein Schwarzes Quadrat gemalt hat. Das Abstraktionsvermögen des Menschen wird in geometrischer Form und durch Ausblenden alles Sinnlichen, aller Farben und alles Abbildenden zur Ikone. Ein weißes Blatt Papier ist gleichsam die Umkehr- oder auch Negativform des Schwarzen Quadrats. Der Möglichkeitsraum einer »reinen« Repräsentation der Welt, die nur aus Licht und dessen strukturierter Unterbrechung besteht. Papier ist ein Gegenstand, der sich in seiner geometrisierten Helle als ein Nichts gebärdet, um den Anschein zu erwecken, die Zeichenketten der Sätze schwebten im leeren Raum.

Es ist programmatisch dünn, fast »immateriell«, um zwischen Gedanken und Realem Brücke und Übergangsobjekt zu sein.

Ein Medium ist es als diese Mitte, die am Möglichen gleich viel Anteil hat wie am Wirklichen.



verfasst von

Wolfgang Pauser

ist als Konzeptionist, Autor und Berater spezialisiert auf kulturwissenschaftliche Produkt- und Markenanalysen
www.pauser.cc

Erschienen in

Zuschnitt 28
Papier ist Holz

Zuschnitt ist Papier; in dieser Ausgabe zugeschnitten auf Papier.

8,00 €

Zum Produkt   Download

Zuschnitt 28 - Papier ist Holz