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Operative Architektur
Zur Geschichte transportabler Holzbaracken

Transportable Holzbaracken als Notunterkunft: Das System Clemens Doeckers aus modularen Wandtafeln fand vor allem während des 2. Weltkrieges durch die Produktion in Großserie seinen massenhaften Einsatz.

erschienen in
Zuschnitt 36 Schnelle Hilfe, Dezember 2009
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Verzeichnis der Bauteile einer »Doecker-Normal-Baracke«, um 1910

Architektur wird meist nach ihrer Form beurteilt, seltener nach ihrem operativen Wert. Dabei ist die Tatsache, dass sich eine Stadtverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts drei transportable Baracken anschaffte, um so für den Fall einer Epidemie gewappnet zu sein, architekturhistorisch mindestens so interessant wie die neuartigen Stahlkonstruktionen Gustave Eiffels, die zur selben Zeit entstanden sind. Bis heute wird jedoch selten anerkannt, dass auch die transportable Holzbaracke – ähnlich wie der berühmte Pariser Turm – eine architektonische Innovation war und ihr Erfolg eng mit einer Weltausstellung verknüpft war.

Im Vorfeld der Antwerpener Weltausstellung von 1885 hatte das Internationale Rote Kreuz in Zusammenarbeit mit preußischen Militärs einen Architekturwettbewerb ausgelobt, bei dem das am besten geeignete »Bauwerk zur Behandlung von Verwundeten und Infektionskranken für Kriegs- und Friedenszwecke« gekürt werden sollte. Die Erfahrungen aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 hatten in der preußischen Heeresverwaltung das Bemühen verstärkt, ein »voll befriedigendes, leicht versendbares Modell« einer Lazarett- und Notbaracke zu entwickeln. Sechzig Erfinder, Handwerker und Ingenieure lösten die Ausschreibungsvorgaben des internationalen Wettbewerbs auf höchst unterschiedliche Weise. Unter den eingereichten Entwürfen finden sich zeltähnliche Bauten, Fachwerkkonstruktionen und Lazarettwagen, die am Einsatzort zu größeren Räumen zusammengekoppelt werden konnten. Als Gewinner aus der Vielzahl der Vorschläge bestimmte die Jury aus europäischen Militärärzten die »versendbare Baracke« des dänischen Rittmeisters Johann Gerhard Clemens Doecker. Sein Entwurf war äußerlich eher schlicht, in der Nutzung aber enorm vielseitig. Doeckers leichte Holz-Architektur basierte auf einem modularen Wandtafelsystem, war transportabel, für Laien in vier bis fünf Stunden zu errichten und nach dem Aufbau sofort beziehbar. Außerdem – auch das war ein wichtiges Argument – war sie vergleichsweise preiswert.

Doecker verhalf mit seinem Konzept dieser ephemeren Architektur zu einem technologischen Qualitätssprung. Die diskursive wie konstruktive »Erfindung« dieses Gebäudetyps am Schnittpunkt militärischer und medizinischer Interessen hatte freilich eine längere Vorgeschichte. Erste Beispiele für den »Versand« von Lazarettbaracken sind aus dem Russisch-Türkischen Krieg (1787–92) überliefert. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten viele europäische Armeen handwerklich vorgefertigte Baracken zur Massenunterbringung von Soldaten ein. Mit den neuen Formen der Kriegsführung ab Mitte des 19. Jahrhunderts gewann das Kriterium der Transportabilität wachsende Bedeutung. Der Krieg wurde schneller, also sollten auch die Baracken »schneller« sein, um die massenhaft Verletzten rascher medizinisch versorgen zu können.

Ursprünglich als »fliegender« Lazarettraum für Kriegszeiten entwickelt, wurde Doeckers transportable Baracke um 1900 nach einer kurzen Phase ausschließlich militärischer Nutzung auch als praktikable architektonische Lösung für drängende bevölkerungspolitische, stadtplanerische und infrastrukturelle Probleme attraktiv. Die Firma Christoph & Unmack, die ihren Hauptsitz im schlesischen Niesky hatte und der Alleinhersteller der Doecker-Baracken war, popularisierte ihr architektonisches Massenprodukt mit Prospekten und Katalogen. Ihre formale Einfachheit und ihre funktionale Unbestimmtheit machten die Holzbaracken schon bald zu einem wichtigen Instrument städtischen Regierens. In rasant wachsenden Stadtvierteln konnten sie als Ersatz-Schulen genutzt werden, anderswo dienten sie zur Unterbringung von Obdachlosen. Durch ihre schnelle Verfügbarkeit besaßen transportable Baracken weitaus stärker als andere Formen des umbauten Raums den Charakter eines Werkzeugs. Mit ihnen konnten Verwaltungen Außenraum schnell besetzen und Innenraum kurzfristig bereitstellen. Soziale Probleme wie »Elend« und »Chaos« waren so provisorisch auf preiswerte Weise beherrschbar – bis zur »richtigen«, dauerhaften Lösung. Dadurch auch konnte das Nicht-Geplante – dynamische Entwicklungen oder unvorhersehbare Ereignisse – mit ins Kalkül gezogen werden.

Transportable Baracken gewährleisteten das Funktionieren von Städten in Ausnahmesituationen, die durch Kriege, Epidemien, Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen oder einfach durch ein rasantes Wachstum verursacht waren. Baracken wurden aber auch bewusst dazu genutzt, um Ausnahmesituationen überhaupt erst zu konstituieren. So wurde im nationalsozialistischen Deutschland durch die Normierung der transportablen Baracken auf wenige Typen ein staatlich organisiertes System industrieller Vorfertigung geschaffen. Während des Zweiten Weltkrieges waren mehr als 400 Holzbauunternehmen in Deutschland und den besetzten Gebieten in dieses Produktionsnetzwerk eingebunden. Erst diese Architekturproduktion in Großserie erlaubte den massenhaften Einsatz von Baracken, vor allem für den Reichsarbeitsdienst, für Truppenlager der Wehrmacht, für Zwangsarbeitslager und für die Konzentrationslager der SS.

In der Regel werden transportable Baracken als ephemere Bauform angesehen, als etwas Vorübergehendes, das kaum der Beachtung lohnt.

Diese Sichtweise führte dazu, dass die paradigmatische Bedeutung dieses Gebäudetyps für die Architektur der Moderne bis heute meist übersehen wird. Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte diese operativ einsetzbare Holzarchitektur zu einem bewährten Mittel, um Menschenmassen rasch unterzubringen, auszugrenzen und festzusetzen. Durch transportable Baracken konnten politische Handlungsspielräume erweitert oder überhaupt erst eröffnet werden.

Sie konnten Not lindern, aber auch Not schaffen – wobei nicht allein die Technologie, sondern vor allem die Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen über den jeweiligen Gebrauch dieser Architektur entschieden.

Anzeige der Firma Sebastian Lutz & Söhne aus München, 1936. Die Firma war einer von etwa 400 Herstellern transportabler Normbaracken im nationalsozialistischen Deutschland. Ihre Baracken standen auf der »Baustelle Obersalzberg« ebenso wie im Konzentrationslager Dachau.

Im Katastrophenfall, wie 1909 nach dem Erdbeben im süditalienischen Reggio Calabria, standen Baracken innerhalb kurzer Zeit als Notunterkünfte zur Verfügung.

Holzbaracken im erdbebenzerstörten Messina, errichtet von einer dänischen Hilfsorganisation. Postkarte, um 1909

 

Während des Ersten Weltkrieges wurden Doecker-Baracken auf allen Kriegsschauplätzen verwendet: ein »fliegendes« Lazarett der Deutschen Reichswehr in Longuyon (Lothringen).

Literatur
Architektur auf Zeit. Baracken, Pavillons, Container
Axel Doßmann, Jan Wenzel, Kai Wenzel
b_books, Berlin 2006
264 Seiten, 276 Abbildungen
ISBN 3-933557-66-6, €14.–

Axel Doßmann
geboren 1968
Historiker
arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena

Jan Wenzel
geboren 1972
lebt und arbeitet als Publizist und Künstler in Leipzig
Mitinhaber des Verlags Spector Books

Kai Wenzel
geboren 1978
Kunsthistoriker
arbeitet als Kurator am Kulturhistorischen Museum Görlitz
Veröffentlichungen zu verschiedenen kunst- und kulturgeschichtlichen Themen

Foto
© Sammlung Kai Wenzel

Erschienen in

Zuschnitt 36
Schnelle Hilfe

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