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Essay – Holzdecken
Die Decke ist ein von unten gesehener Boden. Und umgekehrt.

erschienen in
Zuschnitt 54 Holzdecken, Juni 2014

Leon Battista Alberti schrieb in seinem »De re aedificatoria«: »Die Decke war ihrer Natur nach […] von der ganzen Baukunst für die Menschen das erste jener Stücke, die für ein ruhiges Dasein notwendig waren, so zwar, dass der Decke halber nicht allein die Wand und was mit den Wänden sich aufbaut und mitfolgt, sondern auch alles, was unter der Erde sich befindet, unleugbar erfunden wurde.« Die Decke ist etwas Konkretes, das die bewohnten und belebten Innenräume schützt und erhält. Funktionell gesehen isoliert die Decke klimatisch und akustisch nach oben und unten hin die verschiedenen Räume eines Gebäudes, ermöglicht den Übergang der Installationen. Räumlich gesehen definiert sie die Proportion und den vertikalen Abschluss jedes gebauten Innenraumes. Im Ausdruck ermöglicht sie die Realisierung einer vielfältigen Beziehung zwischen oben und unten: Sie ist Erklärung und Metapher der Lebensart auf der Erde, unter dem Himmel.

Die Decke ist grundlegend für die Bestimmung des Charakters der Innenräume einer Architektur.

Schon Vitruv hat empfohlen: »Da sich die Wände in mannigfaltiger Art aneinanderreihen, muss es vielerlei Deckenformen geben.« Die Decke kann farbig oder neutral sein, einfach in ihrer Geometrie oder zerstückelt in tausend Elemente und Formen. Eine Reihe von Balken regt zur Versetzung darunter an, eine gewölbte Decke schafft zentralisierten Raum, eine flache Decke wirkt gleichmütig, distanziert und neutral. Die Zusammenarbeit von Wand und Decke bestimmt von jeher eine räumlich und expressiv untrennbare Einheit: von der malerischen Romanik bis zur vertikalen Gotik, von der Klarheit der Renaissance bis zum emotionalen Barock, alle architektonischen Sprachen und Strömungen wären nicht möglich ohne die intellektuelle Gleichung zwischen Decke und Himmel und der darauf folgenden andauernden räumlichen und symbolischen Neuinterpretation.

Die Decke, oft sichtbar in ihrer ganzen Dimension, nicht durch Möbel versperrt und freier als andere Flächen, weil nicht an den physischen Kontakt mit jenen gebunden, die unterhalb gehen (nur Spider-Man kann sich auf der Decke bewegen), ist deshalb für Experimente und akzentuierte Ausdrucksformen besser geschaffen. Die Decke schützt nicht nur das, was sie zudeckt, sondern sie vervollständigt auch die formgebende Qualität eines Raumes. San Galgano in der Toskana oder die Kirche Santa Maria dello Spasimo in Palermo veranschaulichen es: Ein Innenraum ohne Decke, so faszinierend dieser auch scheinen mag, wird immer als Ruine empfunden. Dach und Decke sind tatsächlich stark miteinander verbunden, oft entspricht die letzte Decke der Unterkante des darüber befindlichen Dachs. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen diesen beiden architektonischen Elementen. Ersteres ist vor allem von außen sichtbar und dient nicht nur zum Schutz, sondern auch, um sich von der Umgebung abzuheben, indem es die Silhouette des Ortes bestimmt. Zweiteres ist ein Innendach, seine Form bestimmt den Charakter des Raumes, den es abschließt. Die Decke qualifiziert unser tägliches Leben und definiert den bewohnten Raum. Sie wird durch Geometrie, Farben und Schatten charakterisiert. Eine Decke kann erhaben, groß, pompös sein, Wärme oder Feierlichkeit, Fröhlichkeit oder geometrische Qualität ausstrahlen, je nach ihrer gestalterischen und materiellen Beschaffenheit.

Die Decke ist freier als andere Flächen, sie ist – da nicht von Möbeln verstellt – in ihrer ganzen Dimension sichtbar.

Auch aus technologischer Sicht ist die Decke entscheidend für die Qualität und den Charakter einer Architektur. Welche Raumweite kann man zudecken? Mit welcher Stärke? Welche Materialien stehen für die Realisierung zur Verfügung? Und im Falle einer Holzdecke: Welche sind ihre besonderen Eigenschaften? Das Holz als Naturelement ist materialisiertes und dauerhaftes Leben. Holz schafft immer einen dichten Raum und warme Umgebung. Alle Geschichten über die urtümliche Holzhütte beziehen sich auf den Wald als Ursprung der Architektur und die Verzweigung der Äste als natürlicher Schutz. Holz ist deshalb von Natur aus zur Abdeckung gebauter Räume prädestiniert, und für verschiedene Situationen gibt es unterschiedliche Lösungen: Eine Decke mit Holzgebälk hat Rhythmus, regelt, zeigt Baulogik; Kassettendecken bieten Dekor und Funktionalität, erlauben den Einsatz von kurzem Holz, sodass das bessere Holz für das Dach übrig bleibt; die Flachdecke aus Holz ist programmatisch eine künstliche Aktion, alternativ zur Mimese der Äste eines Baumes, funktioniert aber gut.

Die Decke ist ein behagliches Element, immer positiv, immer zugunsten von etwas oder jemandem. Diese konstruktive und räumliche Rolle der Decke ist nur gut sichtbar, wenn man in Abschnitten denkt. Nur so erscheint ihre ambivalente Natur in voller Größe: Eine Decke ist der direkte Kontrapunkt zum Boden, sein Alter Ego. Sie materialisiert gleichzeitig einen Schutz von oben und ermöglicht diesem Oben zu sein, indem sie es stützt. Eine Decke ist ein intellektuelles Werk, sie erfordert Abstraktionsfähigkeit und Konstruktionswillen.


verfasst von

Alberto Alessi

Architekt, freier Kurator und Kritiker, lebt in Zürich

Erschienen in

Zuschnitt 54
Holzdecken

Im Holzbau gibt es eine große Vielfalt an Deckensystemen. Ob große oder kleine Spannweiten, ob mit sichtbarer oder unsichtbarer Holzkonstruktion – die Möglichkeit der Vorfertigung, die trockene Bauweise, die Einsparung von Gewicht und die Vorteile in der Ökobilanzierung haben alle Decken aus Holz gemeinsam.

8,00 €

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Zuschnitt 54 - Holzdecken