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Essay – Unter Spannung
Holz in vielerlei Gestalt

erschienen in
Zuschnitt 73 Unter Spannung, März 2019

Als sich das Ingenieurwesen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts als feste technische Disziplin allmählich etablierte, war das Holz der Baustoff schlechthin. Das lag im Wesentlichen an seiner Verfügbarkeit, aber auch am umfangreichen Wissen über seine Einsatzmöglichkeiten und Grenzen. Die wechselvolle Geschichte des modernen Holzes – seine Krisen im Schatten anderer Baustoffe und seine Konjunkturen bei deren Mangel oder Unzulänglichkeiten – hängt eng zusammen mit der sich verändernden Rolle der Technik im Bauen. Sie zielt auf das Zusammenspiel zwischen einer sehr alten Konstruktionsweise mit einer zunehmend zentralen Wissenschaft und einer immer leistungsfähigeren und einflussreicheren Industrie.

Den Ingenieuren ging es bei der Errichtung einer rationalen Bauwissenschaft um die Abnabelung vom erfahrungsbasierten Konstruieren, das sich an erprobten Typologien orientierte. Auf der Grundlage von nachvollziehbaren Faktoren wie Materialfestigkeit, Lasten oder der geometrischen Konfiguration der Teile sollte sich das entstandene Konstrukt schnell und sicher prüfen lassen, gewissermaßen als eine durch die Wissenschaft vorausgenommene Erfahrung. Das Holz spielte dafür zunächst keine grundlegende Rolle; es war wegen seiner Bedeutung als Materialstandard aber ein wichtiger Bezugspunkt. Noch heute sprechen Ingenieure von der gezogenen oder neutralen Faser bei der Berechnung des Biegebalkens. Als der Ingenieur Karl Culmann 1851 in Deutschland nach seiner Nordamerikareise über die dort vorgefundenen weitgespannten Holzbrücken berichtete, verbreiteten sich sowohl die dort verwendeten pragmatischen und effektiven Konstruktionsweisen als auch die von ihm hierbei entwickelte Fachwerktheorie. Jene verknüpft die Stäbe nur an ihren Enden und schaltet die für das Holz so typischen Überlagerungen von Stäben aus, schafft also eine einfachere Ordnung, basierend auf Stab und Knoten. So entstand ein mechanisches Modell des Fachwerks neben dem des traditionellen, das aber die neue Basis in der Bautechnik wurde.

Dieser Zusammenfluss unterschiedlicher Wissens- und Praxisformen von alter Welt und neuer kann im Rückblick gar nicht überschätzt werden. Denn zum einen wurde mit den amerikanischen, radikal einfachen und standardisierten Tragwerkstypen und Stabquerschnitten eine stark industrielle Bauweise in den Vordergrund gerückt, zum anderen wurde im theoretischen Ansatz der neuen Berechnungsweise das abstrakte Formenschema des gereihten Dreiecks der Holzbautradition vorangestellt. Die Theorie erklärte so nicht mehr das, was existierte; sie diktierte das, was existieren kann. In der Konstruktionspraxis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das entwickelte Fachwerkgebilde anschließend in ein Material übersetzt. Zu jener Zeit war das stofflose Tragwerksschema aber keine Einschränkung; es war eine Befreiung von zweifelhaften, uneindeutigen Konstruktionen.

In diesem Paradigmenwechsel begegneten sich die Bestrebungen von Wissenschaft und Industrie. Das Ingenieurwesen machte die Holzkonstruktion verlässlicher, berechenbarer und damit vor allem effizienter und leichter, und das ermöglichte dem Holzbau Zugang zu Bauaufgaben mit großen Spannweiten zum Beispiel im Industrie- und Brückenbau. Der Holzbau erhielt eine neue Bedeutung, indem er die traditionelle Handwerklichkeit der Holzform und verbindung mit den Mitteln industrieller Fertigung ablöste durch eine Fokussierung auf die Form der Gesamtkonstruktion. Die ingenieurmäßige Handwerklichkeit fokussierte fortan auf die Anordnung der Elemente im Raum und deren solide Verbindung. Anfang des 20. Jahrhunderts galt die moderne Holzkonstruktion als dem Stahl ebenbürtig, war im Wesen von ihm kaum noch zu unterscheiden.

Nachdem sich das Holz mithilfe der übergeordneten Tragwerkstheorie neben den anderen industriellen Baustoffen gleichwertig anbieten konnte, gelang dem modernen Holzbau im 20. Jahrhundert eine enorme technische Weiterentwicklung zum Ingenieurholzbau. Die technische Konstruktion zielte nun auf die Beschaffenheit des Materials selbst. Dessen Umorganisation begann bei Otto Hetzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst mit horizontalen Lamellen, die individuell geformt und in präziser Neuanordnung zu beliebigen Querschnitten zusammengefügt wurden. Die Bestandteile wurden kleiner und mit besseren Klebstoffen gefügt. In verschiedensten Formen kamen nun die Holzwerkstoffe zum Einsatz, die vielfältige, industriell präzise gefertigte und theoretisch besser ermittelte Anwendungen erlaubten. Diese Vermittlung von Theorie und Baupraxis bringt typischerweise der Ingenieur in jedes Projekt, skizziert dem Architekten Potenziale und Probleme und verbürgt sich nicht nur für die sichere, sondern idealerweise auch stimmige Konstruktion – und zwar unabhängig vom Konstruktionsmaterial.

Warum muss also die Rede vom Ingenieurholzbau sein, wenn das Holz doch seinen festen Platz im modernen Bauen gefunden hat? Weil das Holz heute – immer noch oder wieder – eine so besondere Rolle spielt, indem es sich außerordentlich dynamisch verändert. Die Produktion zeitgenössischer Holzarchitektur ist schon in der Konzeptentwicklung auf eine umfangreiche Holzkompetenz angewiesen, die sich mit den Formmöglichkeiten, Konstruktionssystemen und neuen hybriden Materialien auskennt, ja sogar bauphysikalische und brandschutztechnische Aspekte einbeziehen kann, welche gerade im Holzbau eine so große Rolle spielen. Davon zeugen der große Erfolg des Schweizer Modells des Holzbauingenieurs und seine bedeutende Rolle im frühen Entwurfsprozess. In der jetzigen Phase der wachsenden Grammatik des Holzbaus mit seinem zunehmenden technischen und architektonischen Potenzial ist der Ingenieurholzbau wichtiger denn je; er ist nicht zuletzt Teil einer neuen Baukultur.


verfasst von

Mario Rinke

ist Bauingenieur und Dozent an der Hochschule Luzern und Oberassistent bei Prof. Schwartz am Departement Architektur der ETH Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen im Spannungsfeld von Architektur, Konstruktion und Baugeschichte.

Erschienen in

Zuschnitt 73
Unter Spannung

Ob große Spannweiten, hohe Räume oder ungewöhnliche Kubaturen, im Holzbau kann der Ingenieur aus dem Vollen schöpfen. Spannendes und Informatives rund um den Ingenieurholzbau.

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Zuschnitt 73 - Unter Spannung

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