Dorf und Metropole, Dichte und Ausdehnung treten in Tokio als kausale Gleichzeitigkeiten in Erscheinung. Im Unterschied zu europäischen Städten mit ihren relativ stabilen Zentren und der dominierenden Blockrandbebauung setzt sich die periphere Stadtstruktur Tokios aus kurzlebigen Anhäufungen heterogener Solitäre zusammen. Das Freistehen zusammengewürfelter Häuser, riesig oder winzig, sorgt trotz der Dichte für eine überraschende Durchlässigkeit. Überall Spalten, Restflächen und Zwischenräume mit ausgelagerter Infrastruktur (Klimageräte, Lüftungsschächte, Hausrat) und undichte Stellen, in die sich Kleinarchitekturen einnisten können: Skinny Homes, bei denen die gesetzliche Straßenfront-Mindestbreite von 2 Metern kaum überschritten wird; Autos, die nicht auf Parkplätzen, sondern in den Privathäusern millimetergenau Unterschlupf finden; Blumentopf-Gärten am Straßenrand, ein freundlicher Platzhalter an der Schnittstelle zwischen öffentlich und privat; überall das unmittelbare Nebeneinander von Shintu-Schreinen, Konbini-Stores, buddhistischen Tempeln und Eigenheimen aus Holz, Stahl oder Beton mit Klinker-, Blech- oder Plastikfassaden; vereinzelt traditionelle Holzbauten, von Gartenmauern umschlossen. Der Wildwuchs der Wolkenkratzer und Kleinhäuser und das auf Abstand gehaltene Zusammenrücken des Uneinheitlichen erwecken den Eindruck von Regellosigkeit, der verstärkt wird durch das allgegenwärtige Kabelgewirr über den Dächern. Die erdbebensicher verzurrten Strommasten erinnern daran, dass in Japan nach wie vor nur 15 Prozent der Strom- und Telefonleitungen unter der Erde geführt werden.
Die kleinen Bauparzellen, oft Restflächen kaum größer als 30 m2, sind das Resultat vielfacher Grundstücksteilungen. Steigende Quadratmeterpreise und hohe Erbschaftssteuern beschleunigten den Fragmentierungsprozess und mit ihm die Strategien der fantasievollen Raumausnutzung, auf die sich nicht nur findige Designer spezialisiert haben, sondern die seit je zur anonymen Alltagskultur Japans zu gehören scheinen. Zum Stehen benötige man nicht mehr als eine halbe Tatami-Matte, und zum Liegen eine ganze, besagt ein altes Sprichwort (»tatte hanjo nete ichijo«). Das Wohnen im kleinmaßstäblichen Dazwischen hat aber nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension, denn in der 13-Millionen-Metropole beträgt die durchschnittliche Lebensdauer eines Hauses kaum 26 Jahre. Diese Kurzlebigkeit hält das Stadtbild Tokios in Bewegung, in das sich unter der Kruste gesellschaftlicher Normen der ökonomische und soziale Wandel schnell und unvermittelt einschreibt. Die unstete Stadtmorphologie fasziniert Ansässige wie Reisende, die für die alltäglichen Sensationen einer volatilen kleinteiligen Struktur empfänglich sind.
Inzwischen taucht der Topos des japanischen Minimalhauses als universales Lösungsversprechen regelmäßig in internationalen Fachzeitschriften auf. Fast jedes Tokioter Architekturbüro ist heute mit der Anforderung konfrontiert, in beengten Verhältnissen Wohnraum zu schaffen. Im Häusermeer Tokios mögen es winzige Partikel sein, den Bewohnern eröffnen sie einen erstaunlichen Kosmos.