Zum Hauptinhalt springen

Biobasierte und geobasierte Materialien für eine „frugale“ und kreative Architektur

erschienen in
Zuschnitt 87 Holz, Lehm, Stroh, Dezember 2022

Wirklich ökologisch ist in der Architektur die Verwendung der richtigen Menge des richtigen Materials am richtigen Ort – und zum richtigen Preis. Zieht man die schädlichen Auswirkungen des – seit den 1950er Jahren vorherrschenden – Betons auf die Umwelt in Betracht, dann ist sein Preis zu gering. Er besteht aus Sand, der nach Wasser zweitknappsten Ressource der Welt, und Zement, dessen Produktion sehr energieintensiv ist. Dadurch ist er für etwa 8 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Er ist also nicht das Wundermaterial, das sich die Architekten der Moderne vorstellten, trotzdem bleibt er für bestimmte Bauwerke wertvoll. Für die übrigen gibt es zahlreiche Alternativen: Holz natürlich, aber auch andere biobasierte (Stroh, Hanf, Schilf) und geobasierte Materialien (Lehm, Stein).

Biobasierte Materialien

Der Großteil des Marktes für biobasierte Dämmstoffe wird noch von Holzfasern abgedeckt, aber auch Stroh und Hanf werden häufiger verwendet als früher. Die Ressourcen sind gemeinhin reichlich vorhanden und die Wertschöpfungsketten vielerorts bereits gut strukturiert. Diese Materialien bieten ein großes ­Potenzial für die Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten. Sie sind auch nachhaltig: Sie emittieren nicht nur kein CO2, sondern speichern Kohlenstoff sogar. Die ­Verwertung von Pflanzen mit einjährigem Wachstum (Stroh, Hanf, Schilf) bietet große Chancen, um hier und jetzt gegen die gefährliche globale Erwärmung zu kämpfen.

Vor allem Stroh treibt die Revolution der biobasierten Dämmstoffe voran, ein landwirtschaftliches Nebenprodukt, das oft als Abfall verbrannt wird. Frankreich ist das größte Getreideanbauland der eu, jährlich werden etwa 25 Millionen Tonnen Stroh produziert. 10 Prozent davon würden ausreichen, um 500.000 Wohnungen pro Jahr zu dämmen. Die Strohballen werden in der Regel so verarbeitet, wie sie auf den Feldern hergestellt wurden. Sie haben einen standardisierten Querschnitt (37 × 47 cm), aber ihre Länge variiert zwischen 80 und 120 cm. Sie wiegen 15 bis 20 kg und kosten 2 bis 4 Euro.

Der Aufschwung auf dem französischen Strohsektor ist beeindruckend. Vor zehn Jahren gab es im Land weniger als 500 mit Stroh gedämmte Gebäude, die meisten davon selbstgebaut. Im Jahr 2022 sind es fast 10.000, darunter zahlreiche öffentliche Einrichtungen. Viele befinden sich in der Pariser Gegend, einige sind sehr groß. Der entscheidende Schritt erfolgte 2012 mit der Veröffentlichung der Fachregeln, die Versicherer und technische Aufsichtsbehörden von der Eignung dieses Materials überzeugten. Die 2012 am Centre Scientifique et Technique du Bâtiment (CSTB) durchgeführten Brandversuche für einen 6.000 m2 großen Schulbau in Issy-les-Moulineaux waren sehr aufschlussreich. Entgegen der landläufigen Meinung brennt Stroh nicht: Es wird in den ­Ballen so stark komprimiert, dass das Feuer nicht den Sauerstoff findet, den es für seine Entwicklung benötigen würde. Beim Strohbau soll man vor allem auf zweierlei achten: Die Kompression der Ballen muss ausreichend sein und der Feuchtigkeitsgehalt darf 12 Prozent nicht überschreiten.

Das französische Netzwerk für Strohbau (Réseau français de la construction paille – RFCP) mit rund 500 Mitgliedern spielt eine Schlüsselrolle. Auf seiner Website stellt es alle technischen Dokumente frei zur Verfügung und organisiert partizipative Baustellen sowie zahlreiche Pro-Paille-Schulungen für Architekt:innen und Zimmerleute. Zudem leitet es das Projekt Up Straw, das auf einer Zusammenarbeit mit den Strohbranchen in England, Deutschland, Belgien und Holland beruht. Das gemeinsame Ziel ist die Entwicklung von öffentlichen Bauten aus Stroh im städtischen Umfeld in Europa. In diesem Rahmen errichtet das Architektur­büro hirner & riehl im Jahr 2022 ein Gästehaus mit dreißig Zimmern im Kloster Plankstetten in Berching, Deutschland. In der Schweiz realisierte der Architekt Werner Schmidt in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Gebäude aus Holz und Stroh. In Österreich gibt es nur wenige Projekte trotz einiger Initiativen, wie das experimentelle S-House der TU Wien in Böheimkirchen und zwei Projekte des Architekten Georg Bechter in Vorarlberg.

Heute existieren mehrere Techniken nebeneinander. Die erste, die um 1850 in Nebraska erfunden wurde, ist das Stapeln von Strohballen. Am häufigsten wird auf der Baustelle ein tragendes Holzgerüst ausgefüllt, wie bei der Ferme du Rail in Paris. Einige Zimmerleute ziehen es vor, Kästen aus Holzplatten vorzubereiten und sie in ihrer Werkstatt mit Strohballen zu füllen. Bei den ­Sozialwohnungen nach Passivhausstandard, die Le Toit Vosgien 2014 in Saint-Dié-des-Vosges errichtete, wurden die isolierten Kästen auf der Baustelle vor den tragenden Wänden aus Brettsperrholz montiert. Nach diesem siebenstöckigen Gebäude ­realisierte der Bauherr mit der gleichen Technik und den gleichen Planern (APS Architecture) eine elfstöckige Wohnanlage.

Eine der großen Qualitäten von Wänden aus bio- oder geobasierten Materialien ist ihre Perspiration. Sie ermöglicht die Diffusion von Wasserdampf und stellt zugleich die Luftdichtheit sicher. Die theoretisch berechnete Wärmeleistung einer Wand aus Hanfkalk oder Lehm ist nicht überragend, aber der empfundene Komfort und die Raumluftqualität wurden durch Messungen mehrerer Ingenieursbüros bestätigt. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, ein paar Stunden im Haus des österreichischen Unternehmers Martin Rauch zu verbringen, das 2008 in Schlins gebaut wurde. Mit seinen tragenden Wänden über drei Etagen, die mit Erde aus dem Grundstück gestampft wurden, symbolisiert es die Wiederbelebung des Lehmbaus.

Geobasierte Materialien

Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung lebt immer noch in Lehmhäusern. Die Tradition begann vor 10.000 Jahren in Mesopotamien. Als die Menschen sesshaft wurden, bauten sie aus dem, was sie unter ihren Füßen und in Reichweite fanden. Die drei Techniken, die damals erfunden wurden, werden noch angewandt: Lehmziegel (Adobe), Wellerbau und Fachwerk. Alle verwenden die gleiche Grundmischung: Lehm und Fasern (Weizen- oder Reisstroh, Tierhaare usw.). Die Ziegel werden von Hand oder in Holz- oder ­Metallrahmen geformt. Nach einigen Wochen Trockenzeit können sie mit Lehmmörtel vermauert werden. In der jemenitischen Stadt Shibam gibt es etwa 500 fünf bis sieben Stockwerke hohe Gebäude aus Lehmziegeln. Die ältesten stammen aus dem Jahr 1530. Bei Wellerbau-Wänden, meistens etwa 50 cm dick, wird aus Lehm-Stroh-Kugeln eine 40 bis 60 cm hohe Schicht gebildet. Nach einigen Wochen Trockenzeit werden die Flächen mit einem Spaten planiert, bevor die nächste Schicht aufgetragen wird. In Europa ist Wellerbau vor allem im Südwesten des Vereinigten Königreichs, in der Normandie und in der Bretagne zu finden. Was die Fachwerkhäuser mit Holzskelett und Strohlehmfüllung betrifft, so schmücken sie noch immer viele alten Stadtkerne.

Die heute beliebteste Technik, der Stampflehm, wurde erst vor drei Jahrtausenden erfunden, da er mehr Werkzeuge erfordert. Bei der traditionellen Methode werden dünne Erdschichten zwischen etwa 60 cm hohen Schalungen nacheinander gestampft. Die spektakulärsten Stampflehmbauten sind die Tulous, die gemeinschaftlichen Siedlungen, die bereits im 13. Jahrhundert in der chinesischen Provinz Fujian errichtet wurden. Diese Rundbauten können bis zu 80 Meter Durchmesser haben und bis zu 20 Meter hoch sein. Lehm wird hier mit Holz für Dachstuhl und Innenhof­fassade kombiniert. Es gibt noch an die 20.000 Tulous, die meisten von ihnen sind bewohnt.

Im Laufe der Zeit entwickelten sich die Techniken in Übereinstimmung mit der Erde, die auf dem Grundstück oder in der Nähe ­gefunden wurde. Stampflehm erfordert ein breites Spektrum an Körnern, von Ton (weniger als 2 Mikrometer Durchmesser) bis zu Steinen (bis zu 20 cm Durchmesser), während die Mischung für Ziegelsteine aus Ton, Silt und Sand besteht und Fasern enthält, um Risse zu vermeiden. Ein weiterer entscheidender Faktor ist der Wasseranteil. Stampflehm ist kaum feucht, damit er schnell ausgeschalt werden kann, während Wellerbau, Lehmziegel und Strohlehm mit einem Anteil von 15 bis 30 Prozent Wasser ­eine plastische Konsistenz haben.

Um 1880 veröffentlichte der französische Baumeister François Cointeraux zahlreiche Bücher, in denen er die Errichtung von Stampflehmgebäuden beschrieb. Dies führte zum Bau von ­Tausenden Häusern zwischen Grenoble und Clermont-Ferrand, von denen zahlreiche erhalten geblieben sind.

Heute weckt das Bewusstsein für die Klimakrise vermehrt das Interesse an ökologischen und lokalen Materialien, und der Lehmbau erlebt eine Renaissance. Diese wird gefördert durch die weltweite Verfügbarkeit der Ressource, jahrtausendealte Baukulturen und ein sehr aktives Netzwerk aus Architekt:innen, Ingenieur:innen, Forscher:innen, Handwerker:innen und Bau­unternehmen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei CRAterre, das internationale Zentrum für Lehmbau, das 1979 an der Architekturschule in Grenoble gegründet wurde. Seine erste Aufgabe war die Erhaltung traditioneller Bauten: 15 Prozent des Unesco-Weltkulturerbes sind aus Lehm gebaut. Die Forscher:innen von CRAterre arbeiteten aber auch an der Schaffung wissenschaft­licher Grundlagen über das Material, an der Weiterentwicklung der Techniken und an der Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen.

Das Bauen mit Lehm hat viele Vorteile. Der Rohstoff ist zu geringen Kosten verfügbar, häufig direkt an der Baustelle. Die Verarbeitung ist energiesparend und führt nicht zu Luft-, Wasser- oder Bodenverschmutzung. Sie kann auch von Anfänger:innen unter fachkundiger Anleitung durchgeführt werden. Und am Ende des Lebenszyklus des Gebäudes kann man die Erde wiederverwenden – vorausgesetzt, sie wurde nicht mit Kalk oder Zement stabilisiert. Traditionelle Bauweisen haben gezeigt, dass Erde keine chemischen Zusätze braucht, um Jahrhunderte zu überdauern. Wichtig ist, dass Architekt:innen die Qualitäten des Materials zu nutzen wissen und mit seinen Schwächen umgehen können. Der kon­struktive Schutz, zusammengefasst in dem Spruch „gute Stiefel und ein guter Hut“, bewahrt die Fassaden vor Schäden durch Wasser und vor allem durch Schlagregen.

Neben technischen, wirtschaftlichen und ökologischen Vorteilen bietet Lehm auch einen hohen akustischen und hygrothermischen Komfort. Dank der Trägheit und der Phasenverschiebung kann so die tagsüber in der Wand oder im Boden gespeicherte Wärme nachts, wenn die Luft kühler ist, wieder abgegeben werden.

Lehm besitzt auch, wie Holz, ästhetische und haptische Qualitäten. Seine schimmernden, sich weich anfühlenden Oberflächen schaffen eine behagliche Hülle. Für Anna Heringer vermitteln diese ­Eigenschaften ein Gefühl der Geborgenheit: „Stampflehm hat ­eine archaische Ausstrahlung, eine Urkraft, die einzigartig ist.
In Verbindung mit den samtig wirkenden Lehmputzen und den glänzenden Oberflächen eines Bodens aus Lehm und Kasein, ist er atmosphärisch unglaublich sinnlich und wohltuend.“ Die deutsche Architektin, die für ihre Gebäude aus Wellerbau und Bambus in Bangladesch bekannt wurde, realisiert zusammen mit Martin Rauch mehrere Lehmbauten in Deutschland. Ein von ihr geplantes Gästehaus des RoSana Ayurveda Kurzentrums wurde 2021 in Rosenheim eröffnet.

Mit gutem Beispiel voran

Der Aufschwung bio- und geobasierter Materialien beruht auf der begleitenden Aufwertung lokaler Ressourcen und regionalen Know-hows. Dies ist auch das Prinzip, das seit Jahrzehnten den Erfolg des Vorarlberger Holzbaus ausmacht. Das Sourcing, um den Rohstoff zu finden, ist ein entscheidender Schritt. Beim Lehmbau fängt es mit der Verwertung von Bauaushub an. Cycle Terre, eine 2021 in Sevran eröffnete Fabrik, verarbeitet jährlich 8.000 Tonnen Erdreich aus Baustellen des Großraums Paris zu nicht stabilisierten Lehmblöcken, Lehmputz und Mörtel. Ermutigend ist, dass die großen Bauunternehmen beginnen, diese Produkte in ihren Projekten zu verwenden.

Weitere große Projekte aus Lehm sind in der Region Bordeaux im Gange, darunter eine Schule und mehrere Weinkeller. Eines davon errichtet der österreichische Lehmbaupionier Martin Rauch, der vor zehn Jahren den Stampflehmbau revolutionierte, als er eine 50 Meter lange Fertigungskette für das von Herzog & de Meuron entworfene Ricola Kräuterzentrum entwickelte. Die Größe des Gebäudes und seine 3.000 m2 selbsttragende Fassade erforderten die Vorfertigung, um nicht in Frostperioden mit Lehm bauen zu müssen. Die Bauzeit wurde ziemlich gleichmäßig verteilt auf die Vorfertigung der Module in der Nähe der Baustelle, ihre Montage und das manuelle Füllen der Fugen, um eine homogene Oberfläche zu erhalten. Martin Rauch verlegte zuerst seine Produktionsstätte nach Darmstadt, um dort die Büros von Alnatura zu bauen. Danach beschloss er, die Produktion in einer neuen Fabrik in Schlins unterzubringen, wo der Boden ideal für Stampflehm ist. Er verrät uns seine Vision für die Zukunft: „Die Nachfrage steigt aufgrund der ökologischen Herausforderungen und der Energiekrise. Heute haben wir praktisch ein Monopol, dabei bräuchte man alle 200 km eine Fabrik wie unsere. Wir wollen nicht, dass ­unsere Firma wächst, es ist die Verwendung von Lehm im Bauwesen, die häufiger werden muss. Ich hoffe, dass sich immer mehr Unternehmen dazu entschließen werden, mit Lehm zu bauen.

Das Problem ist, dass es nicht genügend Handwerker gibt und die meisten Menschen immer noch Angst davor haben, dieses ­natürliche Material zu verwenden. Um das zu ändern, müssen wir die Ausbildung ausbauen, die Qualität der Architektur verbessern und Forschung und Entwicklung unterstützen.“

Die allgemeine Verwendung von bio- und geobasierten Materialien ist heute unerlässlich. Die Erhaltung des Kulturerbes hat das Verschwinden eines Handwerks verhindert, und dieses wird langsam wiederbelebt. Um der steigenden Nachfrage gerecht zu ­werden, ist jedoch eine Industrialisierung zusätzlich notwendig. Holz, Lehm, Stroh – alle haben ihren Platz, wie in den effizienten und harmonischen Kombinationen der traditionelle Bauten. ­Unsere Aufgabe ist es, sie kreativ zu nutzen, um eine frugale und fröhliche Architektur gemeinsam zu erfinden.

Frugale Architektur

Frugalität ist der maßvolle Umgang mit den Früchten der Erde. In der Architektur sowie der Stadt- und Regionalplanung ist es zunächst eine Haltung, die vier Handlungsfelder betrifft: die sinnvolle Nutzung von Grund und Boden, die Reduktion des Energieverbrauchs und die Bevorzugung ökologischer und lokaler Baumaterialien, alles in einem ganzheitlichen und gemeinschaftlichen Prozess.

So beschreiben es Alain Bornarel, Philippe Madec und Dominique Gauzin-Müller in ihrem 2018 verfassten Manifest für eine glückliche und kreative Frugalität. Darin plädieren sie für eine radikale Veränderung im Gebäudesektor im Sinne eines besonnenen Umgangs mit erschöpflichen Ressourcen und für die Erhaltung der biologischen und kulturellen Vielfalt.

www.frugalite.org


verfasst von

Dominique Gauzin-Müller

Die französische Publizistin studierte Architektur und spezialisierte sich bei Roland Schweitzer an der UPA 7 in Paris auf Holzkonstruktion. Sie schrieb zwanzig Bücher, kuratierte mehrere Ausstellungen und lehrt Nachhaltigkeit in Architektur und Städtebau an mehreren europäischen Universitäten. Sie lebt seit 1986 in Stuttgart.

Erschienen in

Zuschnitt 87
Holz, Lehm, Stroh

Ideale Partner für klimaneutrales, ressourcenschonendes Bauen

8,00 €

Zum Produkt   Download

Zuschnitt 87 - Holz, Lehm, Stroh