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Form follows availability
Kreislauffähiges Entwerfen heißt Bauen mit dem, was besteht

erschienen in
Zuschnitt 88 Reuse und Recycling, März 2023

Die Begriffe Kreislaufwirtschaft, Suffizienz und allen voran Nach­haltigkeit haben sich in allen öffentlichen Debatten, so auch im Architekturdiskurs, fest verankert. In Projektbeschreibungen und Immobilienbroschüren werden sie gerne in allerlei Form marktwirksam platziert. Mehr und mehr jedoch tritt dabei das eigent­liche Ziel in den Hintergrund. Es geht um nicht weniger als die maximale Reduktion der durch den Bausektor verursachten ­Emissionen, um eine adäquate Antwort auf den drohenden Klima­kollaps.

Ein bisher zu wenig beachteter Aspekt sind die bei der Erstellung von Gebäuden anfallenden Emissionen. Zu oft liegt der Fokus auf der Optimierung der Betriebsenergie, was in der Strategie der „Ersatzneubauten“ seine ultimative Spitze erreicht. So verlockend das Versprechen auch klingt, es steht uns schlichtweg nicht mehr genug Emissionsbudget für den totalen Ersatz unseres Nachkriegserbes zur Verfügung.

Als Louis Sullivan im Jahr 1896 das Entwurfsprinzip „Form follows function“ proklamierte, ebnete er damit den Weg für die von ­industriellen Prozessen getriebene Architektur der Moderne. Errichtet mit scheinbar endlos zur Verfügung stehenden Materialien, prägen deren Bauten heute große Teile unserer europäischen Städte und bilden jenes Erbe, mit dem es zu arbeiten gilt. Um das ambitionierte Ziel von Netto 0 im Gebäudesektor zu erreichen, benötigen wir aber eine neue Form der Architektur mit neuen Entwurfs- und Planungsprozessen, basierend auf geschlossenen Materialkreisläufen. Im Zentrum dieses „neuen Entwerfens“ steht das Prinzip „Form follows availability“1.

Bewusst müssen wir Planer:innen uns auf die Materialien beschränken, die in der gebauten Umwelt bereits zur Verfügung stehen und durch Abbrüche und Sanierungen für die Wiederverwendung freigesetzt werden – allen voran die Gebäudestrukturen selbst. Erhalt und Weiternutzung von Bauten, das Verhindern des unbedachten Abbruchs also, stellen das Fundament einer klimagerechten Architektur dar. Darauf aufbauend, kann die Wiederverwendung von Bauteilen einen zusätzlichen Beitrag leisten.

Was bedeutet all dies nun für Entwurf und Planung selbst? Wie funktioniert klimagerechtes Bauen mit wiederverwendeten ­Bauteilen? Die schlechte Nachricht zuerst: Es wird komplexer und es gibt wenig Normen, an denen wir uns festhalten können. Die gute Nachricht ist: Es wird wieder wahre Kreativität benötigt, gepaart mit neuer Bescheidenheit. Am Beginn jedes Entwurfs stehen von nun an der Bestand und die Frage, wie dieser in die an uns Architekt:innen gestellte Bauaufgabe integriert werden kann. Welche Funktionen lassen sich in den bestehenden Strukturen sinnvoll umsetzen? Welche Anpassungen, Aufstockungen, Erweiterungen und insbesondere thermischen Verbesserungen sind möglich? Das daraus resultierende Volumen wird in weiterer ­Folge mithilfe von wiederverwendeten Bauteilen ausformuliert, was eine effektive Umkehr des Entwurfsprozesses zur Folge hat. Daher ist es essenziell, dass dieser Aspekt bereits zu Beginn in die Planung miteinbezogen wird.

Konkret wird ein erster Vorprojektentwurf im Rahmen einer ­Potenzialanalyse daraufhin untersucht, welche Bauteilkategorien als Reuse umgesetzt und welche Emissionseinsparungen damit erreicht werden können. Auch Komplexität und Risiken der ­Wiederverwendung einzelner Bauteilkategorien werden dabei aufgezeigt. Generell gilt: Je mehr Spielraum und Anpassbarkeit von Seiten der Architekt:innen ermöglicht werden, desto leichter können auch komplexe Bauteile integriert werden. Statt vollständiger Fassaden lassen sich etwa Fensterfelder definieren, in die später gefundene Reuse-Fenster eingepasst werden können. Essenziell dafür ist, dass der Entwurf als fortlaufender iterativer Prozess zwischen Bauteilsuche und Architektur verstanden wird. Das Entwerfen erfolgt in „Loops“, damit flexibel auf die Parameter eines neuen Bauteils reagiert werden kann.

Im Extremfall wird dann – wie beim Projekt K.118 in Winterthur – aus einer geplanten Fassade mit grauen Faserzementschindeln eine gebaute aus orangeroten Trapezblechen. Das kann Archi­tekt:in­nen, Bauherrschaften und Behörden verständlicherweise vor ­erhebliche Herausforderungen stellen. Um der Planungsunsicherheit entgegenzuwirken, müssen jene, die planen, und jene, die Projekte entwickeln und beauftragen, früh definitiv entscheiden, welche Bauteile und Materialien ­gesucht werden. In weiterer Folge werden Suchprofile mit allen definierten Bauteilparametern und Ausschlusskriterien erstellt. Gefundene Bauteile aus Abbrüchen und Sanierungen, die den Anforderungen entsprechen, werden wie Puzzleteile auf ihre Einsetzbarkeit geprüft und, wenn passend, für die Beschaffung freigegeben. Ziel ist es, möglichst alle Bauteile vor Publikation der Ausschreibungsunterlagen zu beschaffen, um Unternehmen genaue Rechengrundlagen zur Verfügung zu stellen und die ­Gefahr von späteren Nachträgen zu minimieren.

Für Bauherrschaften ändern sich dadurch die Finanzierungsprozesse, denn beim Bauen mit wiederverwendeten Bauteilen sind diese nur bis zur Entsorgung durch das Abbruchunternehmen in einem bestehenden Gebäude verfügbar. Damit sie bereits vor der Auftragsvergabe erworben werden können, muss es zusätzlich zum Planungs- auch ein Bauteilbudget für Entschädigungen, ­Demontage, Transport und Lagerung geben. Das finanzielle Risiko kann aber minimiert werden, indem die im Kostenvoranschlag ­definierten Materialkosten als Kostendach für die Beschaffung der jeweiligen Bauteilkategorien festgelegt werden.

Insgesamt führt kreislauffähiges Bauen mit wiederverwendeten Materialien allerdings zu keinen Kosteneinsparungen. Durch den iterativen Prozess ist der Planungsaufwand höher, die Ausgaben verlagern sich in lokale Wertschöpfungsketten, weil die Demontage von Reuse-Bauteilen vor allem von lokalen, mittelständischen Handwerksbetrieben mit den notwendigen Fachkräften ausgeführt werden kann. Darin liegt aber auch die Chance, unsere Bauindustrie langfristig von übermäßigen Abhängigkeiten von internationalen Lieferketten zu befreien.

In der Ausführungsplanung selbst liegt der Fokus auf dem „Schichten“ und „Entkoppeln“ einzelner Gebäudekomponenten. Je unabhängiger beispielsweise einzelne Fassadenschichten ­voneinander sind, desto flexibler sind Reuse-Bauteile einsetzbar, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Planungsprozess ge­funden werden. Genau dazu können der Baustoff Holz und sein Einsatz im vorfabrizierten Systembau einen großen Beitrag leisten. Jedes wiederverwendete Fenster oder Fassadenblech benötigt eine „Trägermasse“, damit eine geschlossene Gebäudehülle ­entsteht. Der Holzelementbau erlaubt dies, ohne dabei die notwendige Planungsflexibilität einzubüßen. Er funktioniert wie ein ­Rahmen mit plastischer Füllung, der auch kurzfristig noch auf Anpassungen in der Bauteildimensionierung reagieren kann.

Holz ist als nachwachsender, CO2-bindender Baustoff eine ausgezeichnete Ergänzung zum Konzept Reuse und lässt sich darüber hinaus bauphysikalisch gut mit anderen biologischen Baustoffen wie Stroh kombinieren. Die dem Holzbau innewohnende Grundidee mechanischer Verbindungstechniken erleichtert es später, einzelne Komponenten zu demontieren und in den Materialkreislauf zurückzuführen. Eine große Herausforderung des Holzbaus besteht jedoch immer noch in der starken Abhängigkeit von nicht sortenreinen Holzwerkstoffen, insbesondere Plattenmaterialien. Die Entwicklung einer leistbaren sortenreinen Holzbaukonstruktion wie Diagonalschalungen oder einfach demontierbarer Systeme ist daher wünschenswert.


verfasst von

Christoph Müller

ist Mitbegründer der Zirkular GmbH (Basel, Zürich) und berät Immobilien­entwickler:innen und Architekt:innen. Er studierte Architektur an der TU Wien. Bis 2022 war er Projektleiter bei baubüro in situ mit einem Schwerpunkt auf „Einfaches Wohnen“ für Geflüchtete.

Erschienen in

Zuschnitt 88
Reuse und Recycling

Wiederverwendung und Verwertung von Bauteilen und ­Baustoffen, ergänzt durch den Einsatz nachhaltiger Materialien, stehen für eine neue Praxis in der Architektur.

8,00 €

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Zuschnitt 88 - Reuse und Recycling