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Thomashaus in Kritzendorf

erschienen in
Zuschnitt 85 Pause, Auszeit, Holz, März 2022

Daten zum Objekt

Standort

Kritzendorf/AT

Bauherr:in

Sofie Thorsen, Walter Kräutler

Architektur

Architekt Walter Kräutler, Wien/AT, www.architekturkonsulat.at

Holzbau

Josef Berein Ges. m. b. H., Wien/AT, www.berein.at
vieles in Eigenbau

Fertigstellung

laufende Adaptierung seit 2012

Sommerfrische in revitalisierter historischer Bausubstanz


Etwas nördlich von Wien, am rechten Ufer der Donau, liegt das (Freiluft-)Strombad Kritzendorf. 1903 als eines der ersten seiner Art gegründet, erfuhr es vor allem in den 1920er Jahren einen großen Zustrom an Badegästen. Ein Grund dafür war die Demokratisierung der ursprünglich bürgerlichen Idee der Sommerfrische, der temporären Verlagerung des gesamten Familien- und mitunter auch Arbeitslebens an einen gesünderen, kühleren und somit angenehmeren Ort außerhalb der Stadt. In Verbindung mit der Sozialgesetzgebung des Roten Wien kam eine Kultur des ­Wochenendurlaubs dazu. Vor allem der Ausbau der Bahnlinien wie jener der Kaiser Franz Josephs-Bahn ermöglichte einer breiten Bevölkerungsschicht, ihre „Auszeit“ in der näheren Umgebung zu verbringen, und löste einen Boom der Strandbäder und Strombäder rund um Wien aus. Sogenannte Weekend-Kolonien entstanden.

Leichtigkeit, Einfachheit, Alltäglichkeit – und Holz

In Siedlungen wie jener beim Strombad Kritzendorf bildete sich eine ganz besondere Typologie heraus, ein Hybrid aus Badehütte, Schrebergarten- und Stelzenhaus. Ein ganz entscheidender Aspekt dieser Siedlungsbauten war das Bekenntnis zu Bescheidenheit, Einfachheit und einem bewusst kleinen Maßstab. Die durchschnitt­liche Größe der ersten Hütten lag bei ca. 3 mal 4 Metern, oft mit vorgelagerter Veranda. Spuren der Ästhetik des Roten Wien vermischten sich mit Ansätzen der Moderne. Letztere bildeten sich vor allem in den zahlreichen Stützpfeilern ab, auf denen die meisten der Hütten zum Schutz vor Hochwasser gründen. Sie legen Analo­gien zu den modernistischen Pilotis nahe. Die Moderne drückte sich hier weniger als elitärer abstrakt-rationalistischer Weltentwurf aus, sondern in einer spielerischen Leich­tigkeit, Einfachheit und Alltäglichkeit – Qualitäten, die all die ­unterschiedlichen, auf standardisierter Basis aufbauenden Holzhäuser auszeichnen. Wie in Kritzendorf gab es in den meisten ­Badesiedlungen dieser Zeit zahllose Varianten von Typenhäusern, primär und traditionell aus Holz, einem regionalen und leicht ­zugänglichen Material, das eine kostengünstige Produktion ermöglichte.

 

In der Kritzendorfer Hüttenzeile kann man diese verschiedenen Varianten sowie deren weitere Transformationen noch heute beobachten. Eines dieser veränderten Typenhäuser ist das „Thomashaus“. Benannt nach dem Vorbesitzer wurde es nach dem Hochwasser 2013 vom Architekten Walter Kräutler behutsam und in Handarbeit transformiert. Wie viele der Kritzendorfer Badehütten bestand es aus einem Wohnraum im unteren Geschoss (Erdgeschoss wäre hier eindeutig der falsche Begriff, denn von ebendieser Erde ist es abgehoben) und einem Schlafbereich im oberen, aufgestockten Bereich unter einem Mansarddach. Wie für die Siedlung typisch, steht es in einem engen Verbund mit den benachbarten Hütten. Lediglich ein minimaler Zwischenraum von etwa 60 cm trennt die Gebäude in der „Hüttenzeile“ voneinander. Das delikate Nebeneinander, aber nicht Beieinander wird durch den Akt des Abhebens vom Boden noch verstärkt. So entsteht eine Leichtigkeit und Luftigkeit, die sich im Strombad Kritzendorf als tagträumerische Atmosphäre ausdrückt.

Das Thomashaus

Auch das Thomashaus verkörpert diese Haltung, ist aber zugleich ein Kommentar zur vernakulären Logik des Orts, zum Fortschreiben, Weiterdenken des Bestehenden. Obwohl das Häuschen vom Hochwasser stark in Mitleidenschaft gezogen war, entschied sich Walter Kräutler für ein behutsames Instandsetzen der Konstruktion. Die Betonung liegt auf tragender Konstruktion, denn das untere Geschoß des Häuschens wurde als Holz-Fachwerk (re)konstruiert, die Fassade aber mit eigens entwickelten Verglasungen völlig neu gedacht. Während das obere Geschoß weitgehend in den ursprünglichen Zustand versetzt wurde, fand unten eine radikale Transformation der Idee der Hülle, der Fassade, statt. Das Ummanteln der konstruktiven und raumprägenden Elemente mit Verglasungen ist hier insofern bemerkenswert, als es auch die zu den Nachbargebäuden gerichteten Längsseiten betrifft. Der Blick wird in dieser reihenhausartigen Anordnung somit nicht nur nach vorne und hinten, sondern auch hin zu den benachbarten Häuschen geöffnet. Diese konzeptuell radikale Geste erweitert nicht nur simpel die wahrgenommenen Begrenzungen des Hauses, sondern macht auch die Pragmatik und Informalität der geschlossenen benachbarten Seitenwände erlebbar. Im Falle des Thomashauses wird damit noch einmal nachdrücklich auf die Dimension der Gemeinschaftlichkeit, des heterogenen Nebeneinanders auf engstem Raum und vor allem auf eine Notwendigkeit des Sich-in-Beziehung-Setzens hingewiesen. Das vermeintliche Problem der allzu nahen Nachbargebäude wird nicht aus-, sondern liebevoll eingeblendet.

Die Qualität des prozesshaften Wachsens

Die Arbeit am Thomashaus ist als Prozess zu verstehen, der dezidiert keinen genauen Endpunkt kennt. So wie schon in der weit verbreiteten Kritzendorfer Selbstbau-Ästhetik angelegt, versteht sich die Arbeit von Walter Kräutler hier als fortlaufender Selbstversuch im Sinne von trial and error, kontinuierlicher Adaption und Modulation. Dazu gehört auch, dass das Thomashaus im Verbund mit zwei anderen Häuschen ein Ensemble bildet, das auf eine lose Verteilung unterschiedlichster Funktionen und Programme abzielt. Während in einem Haus eher gewohnt wird, wird im anderen eher gekocht und im dritten eher gearbeitet. Dennoch entziehen sich die Räume bewusst einer eindeutigen Funktion. Sie werden je nach Situation, Jahreszeit, Temperatur und Anzahl der Anwesenden jeweils neu aktiviert. Aber auch Details wie die speziell entwickelten, mit feinen Holzrahmen versehenen und ­abnehmbaren Fensterelemente erlauben ein leichtfüßiges Reagieren auf die Umstände, wie das potenzielle Auftreten von Hochwasser.

Der alltäglichen, dörflich anmutenden Komplexität der Anlage wird ein weiterer Mosaikstein hinzugefügt, auch wenn dieser eine überraschende Materialität besitzt. Mit seiner spezifisch eingesetzten Transparenz macht er nicht nur die Regeln und Strukturen des Thomashauses an sich sichtbar, sondern öffnet auch den Blick auf die grundlegende Qualität des Kritzendorfer Patchworks.

 

Vorwiegend verwendetes Holz und Holzbehandlung:
Für sämtliche Adaptierungen wurde Lärche ohne Oberflächenbehandlung eingesetzt.


verfasst von

Christian Teckert

ist Architekt, Autor und Kurator sowie Gründungsmitglied von As-if und dem Büro für kognitiven Urbanismus. Er ist Professor für Raumstrategien an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel und Senior Lecturer am Institut für Kunst und Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Erschienen in

Zuschnitt 85
Pause, Auszeit, Holz

Ob Freizeit, Ferien oder Wochenende – eine Pause vom Alltag muss nicht immer ein großes Spektakel sein. Wir zeigen Orte der Naherholung und Räume für eine Auszeit, geprägt von Holz.

8,00 €

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Zuschnitt 85 - Pause, Auszeit, Holz