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K.118 – Kopfbau Halle 118

erschienen in
Zuschnitt 88 Reuse und Recycling, März 2023

Daten zum Objekt

Standort

Winterthur/CH Google Maps

Bauherr:in

Stiftung Abendrot, Basel/CH, www.abendrot.ch

Architektur

baubüro in situ ag, Zürich/CH, www.insitu.ch

Statik

B3 Kolb AG, Romanshorn/CH, www.b-3.chOberli Ingenieurbüro AG, Winterthur/CH, www.oberli-ing.ch

Holzbau

Zehnder Holz und Bau AG, Winterthur-Hegi/CH, www.zehnder-holz.ch

Fertigstellung

2021

Typologie

Gemischte Nutzung

Holz, Stroh, Lehm und alles, was schon da ist

Holz, Stroh, Lehm und alles, was schon da ist – nach dieser Prämisse hat das Schweizer baubüro in situ ein Projekt mit Signal­wirkung entworfen, wenn es um das Thema Reuse und Recycling geht. Wie ein Fingerzeig wirkt die leuchtend orangerote Fassade der Aufstockung einer ehemaligen Industriehalle auf dem Sulzerareal in Winterthur – und verdeutlicht wie selbstverständlich, dass Bauen mit gebrauchten Bauteilen keineswegs nur ­eine Vision ist, sondern handfeste Realität. Mit dem Auftrag, ein klimagerechtes, kreislauforientiertes Gebäude zu planen, stellte sich die Stiftung Abendrot als Bauherrin konsequent der herausfordernden Verantwortung, die der Baubranche und allen an Planungsprozessen Beteiligten obliegt: eine neue Praxis des Bauens und Planens zu etablieren, die angesichts der Klimaveränderungen und der Ressourcenverknappung einen nachhaltigen Umgang mit Rohstoffen und eine Reduktion der grauen Energie bei der Errichtung von Gebäuden und den dabei eingesetzten Materialien und Produkten verfolgt. Wie das Leitmotiv knapp zusammenfasst, liegt der Schlüssel dazu einerseits in der Wiederverwendung bzw. Wiederverwertung dessen, was es schon gibt – also Reuse und Recycling. Andererseits wird alles, was es darüber hinaus braucht, so gut wie möglich durch die ­Verwendung nachwachsender Rohstoffe – also biobasierter und geobasierter Baustoffe – ergänzt.

Vorhandenes finden, prüfen, verwenden

Die Suche nach geeigneten Materialien wird so zu einem elementaren Bestandteil des Entwurfsprozesses. Im Gespräch mit dem Planungsteam von baubüro in situ wird schnell deutlich, welcher Stellenwert der Recherche, Katalogisierung und Zuordnung von Elementen und Bauteilen neben den klassischen Planungsauf­gaben zukommt. Ein Blick auf die bei diesem Projekt „geernteten“ und wiedereingesetzten Materialen und Elemente gibt ein anschauliches Bild davon. Während das tragende Stahlskelett seinen Weg aus einer ehemaligen Verteilerzentrale des Lysbüchelareals in Basel in den Neubau fand, hatten die meisten Komponenten für den Innenausbau eine vergleichsweise kurze Reise: So stammen beispielsweise die Heizkörper und der Riemenboden aus Massivholz aus einer Genossenschaftssiedlung in Sichtweite. Ebenfalls weiterverwendet wurden Kabeltrassen, Elektroverteiler­kasten, Lüftungsgerät und die PV-Anlage auf dem Dach. Die der Erschließung dienliche Außentreppe stammt aus dem ausgedienten Bürogebäude Orion in Zürich. Dieser Fund hatte insofern ­einen maßgeblichen Einfluss auf den Entwurf, als er sowohl die Treppenpodeste als auch die Höhen der Obergeschosse definierte. Ebenfalls aus dem Orion sind die Plattenbeläge in Küche, WC und auf den Balkonlauben des Neubaus – hierzu wurde die einstige Granitfassade umfunktioniert – sowie die Aluminiumfenster. Aus unmittelbarer Nachbarschaft, vom Sulzerareal Werk 1, konnten die prägnanten Fassadenbleche und raumhohen Indu­striefenster gewonnen werden. Letztere wurden, um den Anforderungen an die Dämmwerte zu genügen, kurzerhand zu einem Doppelfenstersystem nach dem Prinzip der Kastenfenster zusammengefasst. 

Materialpartner als Ermöglicher

Kreative und mitunter unkonventionelle Lösungsansätze sind ein guter Begleiter, wenn man nach dem Reuse-Prinzip plant und baut. Ebenso wichtig ist die sorgsame Wahl jener Baustoffe und Elemente, die nicht aus dem Bestandsrückbau gewonnen werden können. Hier sind es bis auf wenige Einsatzbereiche, wo Beton (und, wo möglich, Recyclingbeton) aufgrund der Anforderungen an Schall- und Brandschutz oder aus statischen Gründen erforderlich war, in erster Linie die Naturbaustoffe Holz, Lehm und Stroh. Diese sind kreislaufgerecht und bringen den Vorteil der einfachen Anpassbarkeit mit sich. So war es beispielsweise ein Leichtes, die unterschiedlichen Fensterformate auch kurzerhand in die Fassadenelemente aus Holz, verschnittfrei ausgefacht mit Strohballen und mit einem Innenputz aus dem örtlichen Aushublehm, einzupassen. Ebenfalls aus Holz in der Erstnutzung sind sämtliche Innenwände. Sie nehmen die unterschiedlichen Türen aus dem Materialfundus ohne Umstände auf und lassen sich auch mit einer Vielzahl an gebrauchten Dreischichtplatten ergänzen und kombinieren. Als flexibler und örtlich einfach und spontan bearbeitbarer Baustoff ist Holz hier der ermöglichende Materialpartner. Der Kopfbau Halle 118 ist ein Kreativort im doppelten Sinn: in seiner Nutzung als Ateliergebäude und durch die experimentelle Herangehensweise an das Planen und Bauen. Das Engagement und die konsequente Herangehensweise der Planer:innen und der Bauherrin schlägt sich durchwegs positiv zu Buche. Durch die ­Reaktivierung des Bestandes, die Nutzung von Rückbaumaterialien und den Fokus auf nachwachsende Baustoffe konnten im Vergleich zu einem reinen Neubau mit ausschließlich neuen Bauteilen und Elementen 60 Prozent der Treibhausgas-Emissionen und 500 Tonnen Primärmaterialien eingespart werden. 

 


verfasst von

Christina Simmel

leitende Redakteurin der Zeitschrift Zuschnitt

Erschienen in

Zuschnitt 88
Reuse und Recycling

Wiederverwendung und Verwertung von Bauteilen und ­Baustoffen, ergänzt durch den Einsatz nachhaltiger Materialien, stehen für eine neue Praxis in der Architektur.

8,00 €

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Zuschnitt 88 - Reuse und Recycling