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Collaborative Constructions
Traditionelles Handwerk durch Digitalisierung wiederbeleben

erschienen in
Zuschnitt 93 Holz – Bau – Forschung, Juni 2024

Während jede:r im In- und Ausland die außergewöhnlichen Fertigkeiten der japanischen Zimmerleute und deren handgefertigte Holzverbindungen von Tempeln und Schreinen schätzt, sieht die heutige Realität der dicht bebauten japanischen Städte meist ganz anders aus. Ähnlich wie die japanische Forstwirtschaft, die mit günstigen Holzimporten kämpft, sind die einheimischen, über Jahrhunderte hinweg kultivierten, arbeitsintensiven zimmermannsmäßigen Verbindungen nicht konkurrenzfähig gegenüber modernen Holzverbindern, die einfache, aber leistungsfähige Details ermöglichen. So schreibt nicht zuletzt das japanische Baugesetz als Reaktion auf mehrere verheerende Erdbeben die starren Konstruktionsmethoden auf der Grundlage von mechanischen Verbindungsmitteln mit hoher Zugfestigkeit und verbesserter Steifigkeit als Standard für alle neu zu errichtenden Gebäude vor.1 Zudem treibt der chronische Arbeitskräftemangel im japanischen Bausektor die Effizienz und Automatisierung weiter voran. Infolgedessen werden heute die meisten Häuser industriell vorgefertigt. Die Kunst der Miyadaiku ist zwar nach wie vor anerkannt, beschränkt sich aber auf eine Nische, die Instandhaltung und Errichtung von religiösen Gebäuden und Strukturen, Wahrzeichen, Noh-Bühnen und (Luxus-)Inneneinrichtungen. Das Ergebnis ist ein polarer Holzbausektor mit wenig Austausch zwischen den traditionellen Miyadaiku und den Fertighausherstellern sowie der Bauindustrie.

Zeitgemäße Traditionen und neue Technologien

Vor diesem Hintergrund und der angestrebten Treibhausgasneutralität von Japan für das Jahr 2050 untersucht das gebaute Forschungsprojekt Kizuki-au/Collaborative Constructions von Gramazio Kohler Research an der ETH Zürich, wie das Wissen von traditionellen japanischen und europäischen Holzbaumethoden durch zeitgemäße digitale und robotergestützte Planungs- und Bauprozesse unter Berücksichtigung kultureller, ökologischer und wirtschaftlicher Aspekte wiederbelebt werden kann. Das Ziel von Collaborative Constructions war es, ein dreigeschossiges Holzbauwerk als leichtes Fachwerk in der Größe eines japanischen Hauses ohne jegliche Metallverbindung zu errichten, das entsprechend den japanischen Bauvorschriften Erdbeben und Taifunen mit Windgeschwindigkeiten von 34m/s standhält. Die Methoden des Computational Designs sollten dabei helfen, komplexe Bedingungen und Abhängigkeiten in einem einzigen System zu modellieren, geometrische Lösungen zu finden und regelbasiert Details zu generieren. Sie bilden im Verbund mit der digitalen Fabrikation die Grundlage für eine Re-Integration und Re-Evaluation der Anwendbarkeit tradierten Wissens und helfen, die modernen Dichotomien zwischen Natur und Technik, Handwerk und Industrie aufzulösen.

Collaborative Constructions wurde von der Schweizer Botschaft in Japan in Auftrag gegeben und von Gramazio Kohler Research, dem Lehrstuhl für Architektur und digitale Fabrikation an der ETH Zürich, für die Aichi Triennale 2022 in Tokoname an der Ise-Bucht entwickelt. Der Entwurf besteht aus fünf Fachwerkmodulen mit identischen Abmessungen (5,48×2,15×2,44 Meter, abgeleitet von den Maßen der für den Transport verwendeten Überseecontainer), aber einzigartiger Anordnung ihrer konstituierenden Elemente, die im Robotic Fabrication Laboratory an der ETH Zürich assembliert wurden. Die Module sind im 90-Grad-Winkel ausgerichtet und bilden eine gestapelte dreistöckige Struktur mit Auskragungen von über 2 Metern. In Anknüpfung an die lange Geschichte des Fachwerks in der Schweiz, in Süddeutschland und Japan wurden Holz-Holz-Verbindungen für jedes Detail der Module entwickelt und für die robotische Assemblierung optimiert.2 Naturbelassene Eichenholzdübel mit Kopf sichern die CNC-gefertigten Überblattungen der Duobalken aus Fichte und der Diagonalen aus querverleimtem Furnierschichtholz. Der Mangel an Normen und Berechnungsgrundlagen für solche Verbindungen machte dabei umfangreiche Lasttests in Japan notwendig. Hierin zeigen sich die Grenzen der Standardisierung, offenbart sich der Verlust an Wissen und Erfahrung im Umgang mit dem natürlichen Werkstoff Holz, hervorgerufen durch Industrialisierung und Normierung. Zugleich wurde durch die Forschung ein wichtiger Präzedenzfall für zukünftige Projekte im Rahmen des Genehmigungsverfahrens geschaffen. Um die komplexen strukturellen Zusammenhänge des Holzbaus effizient abzubilden, entwickelte das Projektteam in Zürich ein intuitives, regelbasiertes Computermodell. Dieses parametrische 3D-Modell generiert, ausgehend von einem Stabmodell und einem Katalog von definierten Verbindungstypen, die spezifischen Geometrien für jede einzelne Verbindung, sodass die Daten für jedes Teil direkt an die Abbundmaschine gesendet werden können. Schließlich wurden alle abgebundenen Teile von einem deckenmontierten Portalsystem mit zwei Knickarmrobotern im Raum zusammengesetzt und die fertigen Module nach Japan verschifft.

Ausdruck neuer Regelmäßigkeit

Mit seinem scheinbar unregelmäßigen Muster aus Diagonalen und dem gänzlichen Verzicht auf vertikale Elemente stellt sich Collaborative Constructions gegen die japanische Tradition der Holzrahmen ohne Querverstrebungen. Zugleich sind die Diagonalen ein wirksames Mittel, um den hohen Horizontalkräften entgegenzuwirken und die erheblichen Auskragungen zu ermöglichen. Die Diagonalen selbst bleiben relativ schlank und sind über mehrere Module hinweg verbunden, um die Kräfte effizient abzutragen. Während die modulare Struktur von außen einer regelmäßigen Form folgt, bietet sie im Inneren ständig wechselnde Perspektiven. Es ist eine Komposition aus Diagonalen, die sich verdoppeln, verlängern, unten gruppieren und oben auf wenige Elemente reduzieren – Ausdruck der Kräfte und Ergebnis der parametrischen Planung. Collaborative Constructions zeigt die Ästhetik digitaler Regelmäßigkeit, die durch die Keile und Stifte mit rechteckigem Querschnitt in japanischer Tradition und die runden Eichendübel europäischer Holzbautradition akzentuiert wird.

Collaborative Constructions zeigt beispielhaft einige Herausforderungen und Chancen im Holzbau auf. Es verbindet digitale Technologien und Ingenieurskunst mit dem gewachsenen Wissen und der Sensibilität des Handwerks im Kontext gegenwärtiger Anforderungen, Normen und ökonomischer Rahmenbedingungen. Es verwendet in Abhängigkeit der Kräfte eine differenzierte Auswahl von Holzprodukten, von massiven Hartholzdübeln über Duobalken zu querverleimten Furnierschichtholz-Diagonalen und stellt damit die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Holzbau und dem wertvollen Ökosystem Wald. Schließlich rückt es Forschung und Technik in den Kontext gewachsener Baukulturen. Mit seinen Diagonalen steht Collaborative Constructions der kompositorischen Reinheit traditioneller japanischer Holzkonstruktionen entgegen, teilt mit jenen jedoch die Eigenschaft, als Struktur das Gebäude selbst zu sein. Radikal in seiner Ablehnung von Dekoration, besetzt es den zukunftsweisenden Mittelweg eines polaren Feldes, höchst komplex aus industrieller Perspektive, einfach aus der Perspektive von Miyadaiku.

1 Siehe Yoshiaki Amino, Ein Überblick über den modernen japanischen Holzbau – Interaktion mit der Tradition, 10. Internationales Holzbauforum 2004, S.4.
2 In Zusammenarbeit mit SJB Kempter Fitze, ERNE AG Holzbau und Shimizu Corporation. Siehe Matthias Helmreich, Hannes Mayer et al.: Robotic Assembly of Modular Multi-Storey Timber-Only Frame
Structures Using Traditional Wood Joinery, CAADRIA 2022 conference and proceedings. DOI: 10.52842/conf.caadria.2022.2.111

 

Collaborative Constructions
Laufzeit 2019–2022
Wissenschaftliche Leitung Gramazio Kohler Research, ETH Zurich, Zürich/CH, https://gramaziokohler.arch.ethz.ch, Hannes Mayer (Projektleitung), Matthias Helmreich, Matteo Pacher; in Zusammenarbeit mit: Shimizu Corporation, Erne AG Holzbau, SJB Kempter Fitze, T_ADS Obuchi Lab, University of Tokyo
Standort als Prototyp realisiert in Tokoname/JP; gefördert vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA, Schweizerische Botschaft in Japan, Präsenz Schweiz
Info online unter https://aichi.vitality.swiss/en


verfasst von

Hannes Mayer

initiierte, entwickelte und leitete Collaborative Constructions als Senior Researcher bei Gramazio Kohler Research an der ETH Zürich. Als Architekturforscher realisiert er weltweit Projekte an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Architekturpraxis und erforscht dabei die Relevanz digitaler Methoden für Architektur und Gesellschaft. Darüber hinaus ist er Herausgeber der Architekturzeitschrift manege für architektur.
www.hannesmayer.eu
www.mfa.one

Erschienen in

Zuschnitt 93
Holz – Bau – Forschung

Holz – Bau – Forschung im Kontext der Ressourcen- und Bauwende

8,00 €

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Zuschnitt 93 - Holz – Bau – Forschung