Über das Ortskernsterben in ländlichen Regionen wird seit Langem intensiv diskutiert. Die Befunde sind eindeutig, für die Ursachen gilt das Gleiche, die Folgen werden allseits betrauert. Einig ist man sich, dass die Revitalisierung traditioneller Einrichtungen wie Gasthaus, Nahversorger etc. in den Dörfern dazu beitragen kann, deren Zentren am Leben zu erhalten. So entstehen Orte der Begegnung und Kommunikation, wie sie für eine vitale dörfliche Kultur und ein soziales Miteinander notwendig sind. Hierin liegt, weitergedacht, die politische Dimension des Themas. Im Folgenden werden drei Beispiele skizziert, die bei aller Unterschiedlichkeit versuchen, über attraktiv gestaltete Nahversorger eine nachhaltige Ortskernbelebung zu erreichen.
Bahn-Hofladen Rottenbach
Wie häufig in ländlichen Regionen wurde das historische Bahnhofsgebäude in Rottenbach (Ortsteil von Königsee in Thüringen mit etwas über 500 Einwohner:innen) seit langem nicht genutzt. Trotz seiner architektonischen Qualität wurde es zum Sinnbild für den nach 1989 einsetzenden, massiven Strukturwandel einer Region, die zuvor von Tourismus, Landwirtschaft und mittelständischen Unternehmen geprägt war. Die unbefriedigende Situation führte zu Nachnutzungsüberlegungen, die 2015 in die Gründung einer von Anwohner:innen getragenen Genossenschaft mündeten. Bedingt durch dieses Engagement wurde das Projekt zum Teil der zwischen 2012 und 2023 in Thüringen abgehaltenen Internationalen Bauausstellung (IBA) „StadtLand“. Das IBA-Siegel stellte die Akteure allerdings vor große Herausforderungen, da hohe Planungs- und Realisierungsstandards zu beachten waren.
Im Nachhinein waren diese ein Glücksfall für den Erfolg der Bahnhofsrevitalisierung. Die gestalterische und räumliche Qualität des denkmalgerecht adaptierten Gebäudes trägt wesentlich zu dessen heutiger Beliebtheit als Treffpunkt bei. Die Räume können auch für Veranstaltungen bzw. als Bürgertreff genutzt werden.
Um den historischen Bahnhof und sein Umfeld als „neuen“ Ortskern zu stärken, wurde er 2024 durch ein etwas abgerücktes multifunktionales Gemeindehaus (Veranstaltungssaal, Toiletten etc.) in Holzbauweise ergänzt (Planung: Atelier ST, Leipzig). Konstruktiv ist das Gebäude einfach ausgelegt. Farbgebung und Konstruktion nehmen Gestaltungsmerkmale des benachbarten Bahnhofs auf, sodass ein harmonisches Ensemble entsteht. Nahversorgung, kulturelle Aktivitäten und soziale Interaktion haben dadurch in Rottenbach ein weitläufig akzeptiertes Zentrum gefunden.
Neue Ortsmitte Arriach
Als locker bebautem Straßendorf mit rund 370 Einwohner:innen fehlte der Kärntner Gemeinde Arriach bis vor Kurzem eine städtebauliche Mitte. Der örtliche Nahversorger drohte abzuwandern, was von Gemeindeseite aus verhindert wurde. In der Folge wurden die infrastrukturellen und räumlichen Verhältnisse in der Ortsmitte neu geordnet. Ziel war die Schaffung eines beruhigten Dorfplatzes, der als neuer Treffpunkt und Identifikationsort für die Bevölkerung dient. Voraussetzung war der Kauf des historischen Scherzerhauses, das zum Gemeindeamt umfunktioniert wurde. Neben diesem steht mit deutlichem Abstand das benachbarte Pfarramt, das eine verwandte Architektursprache zeigt.
Die Lücke zwischen Gemeinde- und Pfarrgebäude wurde 2021 rückseitig durch einen eingeschossigen Holzriegelbau geschlossen, der mit dem adaptierten Gemeindehaus baulich verbunden ist (Entwurf: Hohengasser Wirnsberger Architekten, Spittal an der Drau). In ihm ist heute der Nahversorger untergebracht. Zwischen diesen drei Bauten spannt sich der intime u-förmige Platz auf, der, abgerückt vom Verkehr, das Zentrum von Arriach bildet. Der Holzbau kontrastiert in Material und Konstruktion deutlich mit der Bestandsbebauung und stellt damit eine formale Innovation für den Ort dar. Trotz der geringeren Höhe und der Betonung der Horizontalen behauptet er sich durch die Materialwahl selbstbewusst gegenüber den Nachbarbauten.
Zur Platzfläche ist dem Neubau eine betont schlichte, hölzerne Pfeilerkolonnade vorgesetzt, die an historische Typologien der Stadtraumerschließung erinnert. Als einladende Geste bietet sie Schutz und Raum zur Begegnung. Die großen Fensterflächen des Holzbaus schaffen nicht nur eine visuelle Verbindung von innen und außen, sondern geben dem klar disponierten Verkaufsraum eine funktionsgerechte Lichtfülle. Die bauliche Verbindung (Zugang und gemeinsames Foyer) von Gemeindeamt und Nahversorger stellt eine kontinuierliche Frequenz in diesem Bereich sicher. Die funktionale Synergie sichert dem Nahversorger die ökonomisch notwendige Aufmerksamkeit.
Nahversorger Kleinzell im Mühlkreis
Vergleichbare Intentionen verfolgt das 2021 eröffnete Zeller Kaufhaus im oberösterreichischen Kleinzell (Entwurf: Gerald Anton Steiner, Linz). Der eigenständige, organisch geformte Baukörper wurde in direkter Nachbarschaft zum bestehenden Amtshaus in der Ortsmitte errichtet. Zwischen beiden Bauten ergibt sich eine Platzfläche, die für Gastronomie und andere Aktivitäten genutzt werden kann. Im Kaufhaus sind Nahversorger, Bäckerei und Café unter einem Dach vereint. Bei einer Befragung im Vorfeld sprachen sich die Kleinzeller:innen für die Realisierung eines architektonisch qualitätvollen Baus aus, um die Akzeptanz und Attraktivität des Nahversorgers zu gewährleisten. Erklärtes Ziel war die Schaffung eines sozialen Orts für die Dorfgemeinschaft. Hierzu tragen fünf Arbeitsplätze im Kaufhaus für Personen mit Beeinträchtigungen bei.
Nicht nur die organisch geschwungene Form des Bauwerks, auch seine Materialität unterscheidet es deutlich von der ortsüblichen Bauweise. Umlaufend ist das gesamte Kaufhaus durch gebäudehohe Vertikallatten einheitlich gegliedert. Im Zusammenspiel mit der geschwungenen Grundform ergibt sich ein dynamisches Linienspiel, dessen Modernität durch die dunkelgraue Färbung des Holzes unterstrichen wird. An zwei Stellen (Eingangsbereich und Bushaltestelle) löst sich die Lattung vom Gebäudekern ab. Es entstehen raumhaltige, transparente Zwischenzonen, die dem Gebäudeäußeren zusätzliche Plastizität verleihen. Auch in Kleinzell ist die Innengestaltung hell und funktional. Viel Holz kreiert eine wohltuende Atmosphäre, die einen angenehmen Aufenthalt garantiert.
Obwohl meist der ländlichen Sphäre zugeschrieben, wird bei den beschriebenen Beispielen das Material Holz entgegen der örtlichen Tradition verwendet. Es sind selbstbewusste Bauten, die nicht nur eine hohe gestalterische Qualität realisieren, sondern auffallen. Beides garantiert die für ihren Erfolg dringend notwendige Attraktivität und wird zum Mittel, neue, zeitgemäße Identitäten zu schaffen. Im Gegensatz zur häufig gestalt- und charakterlos ausufernden ländlichen Architekturwirklichkeit sind die gezeigten Bauten wichtige Beiträge zur dringend notwendigen Wiederbelebung einer ortskernbezogenen Baukultur.
Mehr zur Neuen Ortsmitte Arriach gibt es im Podcast „Von A bis HolZ“ zu erfahren. www.proholz.at/podcast