Ein im 18. Jahrhundert errichteter Pfarrhof im vorderen Bregenzerwald, ein bis ins 13. Jahrhundert zurückreichender Kirchenbau im sächsischen Canitz und eine neugotische Kirche im Duisburger Zechengebiet teilen bei aller strukturellen Verschiedenheit ein gemeinsames Los. Alle drei Bauten dienten viele Jahre lang sakralen Zwecken bzw. standen im Dienst einer Pfarrgemeinde und nahmen im gesellschaftlichen Gefüge eine zentrale Stelle ein. Dementsprechend selbstbewusst traten die auf ihre jeweils eigene Art prächtigen Bauwerke in Erscheinung, sei es durch ihre Größe oder zentrale Stellung im Ortskern, sei es durch die erhöhte Position auf einem Sockel oder durch einen weithin sichtbaren Turm. Alle drei Bauwerke verloren im demografischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandel irgendwann ihre ursprünglich mächtige Rolle, standen lange Zeit leer, drohten zu verfallen oder waren – wie in Canitz – bereits als Ruine Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden. In allen drei Fällen bündelten sich zur richtigen Zeit die richtigen Kräfte, um einem brachliegenden Gebäude eine neue kulturelle Identität im Sinne des Gemeinwohls zu geben. Der architektonische Zugang reicht von der minimalinvasiven Intervention am Bestand über die räumliche Umdeutung einer Ruine bis hin zum reversiblen Implantat im Baudenkmal. Bei allen drei Projekten geht die Auseinandersetzung mit historischer Bausubstanz über die Reaktivierung von Leerstand hinaus.
Neue alte Dorfmitte
Wie man einem der ältesten und schönsten Gebäude des Orts gerecht werden könne, fragte sich Gerhard Gruber von gruber locher architekten, als er vor der Aufgabe stand, den 1733 neben der Pfarrkirche in Sulzbach errichtete Alten Pfarrhof sanft dem Dornröschenschlaf zu entreißen. Bis 1981 war das stattliche barocke Gebäude von den Seelsorgern des Ortes bewohnt worden, danach hatte es einige Jahre als Unterkunft für die Mesnerin und als Übergangslösung für die Gemeindeverwaltung gedient. Dann wurde es im Haus immer stiller. Um die Jahrtausendwende erfolgte – im Wissen um den baukulturellen Wert des Bestands – die denkmalpflegerische Sanierung der Außenfassade durch Architekt Karl Sillaber, der nicht nur das charakteristische Weißtannenschindelkleid, sondern auch die hochwertigen Kastenfenster fachgerecht renovierte. Nach dieser Sicherung der Substanz stand der Alte Pfarrhof zwei Jahrzehnte lang leer. Pfarre und Gemeinde ließen sich durch die lange Latenzzeit nicht beirren, sie nutzten die Chance, ein profundes Szenario zu entwickeln. Eine ausgewogene Mischung aus pastoraler und profaner Nutzung war das langfristige Ziel. Das Nebeneinander von Pfarrbüro, öffentlicher Bücherei, dörflichem Treffpunkt und Co-Working-Spaces hat nun das Potenzial, dem Haus seine zentrale Bedeutung für das Dorf zurückzugeben. Die strukturell wichtigste Baumaßnahme war der Einbau einer neuen Eichenholztreppe samt Aufzug. Das Übrige war handwerkliche Feinarbeit: Die Holzkassettendecken, Täfelungen und Böden wurden liebevoll restauriert, jeder Raum erhielt eine eigene, auf die Palette des Bestands abgestimmte Farbigkeit.
Reparierte Ruine
Während in Sulzberg die bauliche Integrität des denkmalgeschützten Pfarrhofs für sanfte Eingriffe den Rahmen vorgab, war von der einstigen evangelischen Kirche in Canitz in Sachsen nur noch eine überwucherte Ruine übrig. Der schlichte Ursprungsbau aus dem 13. Jahrhundert war seit dem 17. Jahrhundert in mehreren Wachstumsschüben um einen westseitigen Kirchturm und einen ostseitigen Chorraum erweitert worden. Im 20. Jahrhundert verwandelte sich das Umfeld dramatisch: Nachdem nach 1945 das nördlich angrenzende Rittergut und Wasserschloss zugunsten eines Sportplatzes weitgehend abgebrochen worden war, verlor auch der Kirchenbau seinen dörflichen und institutionellen Halt. In den 1970er Jahren wurde die verfallende Kirche in Teilen abgebrochen und die Ausstattung verteilt. Vom Turm und dem Chor blieben nur die Grundmauern übrig, eine bestenfalls pittoreske Ruine mitten im Ort. Nach dreißig Jahren Leerstand und Verfall formierte sich 2005 ein Verein zur Förderung des Wiederaufbaus der Kirche, darunter auch konfessionslose Dorfbewohner:innen, denen die Belebung der Ortsmitte ein Anliegen war. In jahrelanger ehrenamtlicher Arbeit wurden die Ruine beräumt und Benefizveranstaltungen organisiert, bis auch die evangelische Landeskirche Sachsen das Projekt unterstützte. Im Gutachterverfahren überzeugte Architekt Peter Zirkel mit seinem Konzept einer behutsamen Reparatur, die auf natürliche Materialien und solides Handwerk setzte. Die Intervention am gesicherten Rohbau umfasste einen verkleinerten Sakralraum und einen ummauerten Freihof im ehemaligen Chor. Die vertikalen Lamellen in der östlichen Giebelwand ermöglichen die räumliche Erfahrung der ursprünglichen Dimension der Kirche, ohne eine Rekonstruktion heraufzubeschwören. Alle Einbauten und Massivholzmöbel aus Esche sowie sämtliche Fenster und Türen aus Lärche sind raumseitig weiß lasiert, die Orgelempore wurde mit einer Fichtenholzschalung verkleidet. Die Bestandswände sind mehrlagig verputzt, die Sandsteinplatten des Bodens stammen zum Teil aus den Resten des Bestands. Dem Projekt fühlen sich alle Bürger:innen verbunden, selbst wenn sie keine Kirchgänger sind: „Durch den Wiederaufbau sind wir im Dorf alle mehr zusammengewachsen“, sagen sie.
Überkonfessionelles Andenken
Auch die evangelische Kirche im linksrheinischen Duisburger Stadtteil Homberg war einst ein lebendiges Zentrum. Der neogotische Kirchenbau mit weithin sichtbarem Turm wurde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, als die Kohleförderung der Zeche Rheinpreußen in Gang kam. Die unter preußischer Herrschaft erstarkte protestantische Arbeiterschaft zeigte mit ihrer eigenen evangelischen Kirche im Stadtteil Präsenz. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs waren verkraftbar, aber die schrittweise Schließung der Zeche in den 1960er und 1970er Jahren setzte dem Viertel stark zu. Aufgrund sinkender Bevölkerungszahlen wurde die Rheinkirche ab 1994 nur noch zu besonderen Anlässen genutzt, 2016 fand die letzte Messe statt. Nach der Entweihung der Kirche erwarb die Planungs- und Denkmalentwicklungsgesellschaft Küssdenfrosch den Sakralbau, um darin eine überkonfessionelle, überreligiöse Urnengrabstätte zu errichten. Bei der Umgestaltung in ein Kolumbarium blieb die denkmalgeschützte Kirche weitgehend unangetastet. Anstelle der Kirchenbänke erheben sich nun gitterartige Strukturen aus Eichenholz bis zu 9 Meter in die Höhe. Die filigrane Holzstruktur definiert acht geschützte Rückzugsräume für Trauernde und löst sich nach oben in farbige Lichtkuben auf, deren Spektrum mit den Kirchenfenstern korrespondiert. In die „Regale“ können Holzboxen für die Urnen eingesetzt werden. Anders als die meisten Urnengrabstätten in ehemaligen Sakralbauten wird dieses Kolumbarium nicht von einem kirchlichen Träger betrieben. Da es keine konfessionellen oder religiösen Einschränkungen gibt, spiegelt nun ein Ort der ewigen Ruhe die kulturelle Diversität des Viertels wider.