Planen gegen Strukturschwächen – diese Aufgabe ist für Planer:innen im Bereich Architektur, Stadt- und Regionalentwicklung kein Novum. Doch welche Strukturen gilt es im Sinne einer positiven Entwicklung zu stärken, welche Veränderungen sind erstrebenswert, welche Gründe sprechen dafür und wer hat einen Nutzen davon? Wir haben bei Yvonne und Michael Lammer vom Studio Scheiberlammer und bei Raffaela Lackner, beim Land Kärnten zuständig für Baukultur, nachgefragt, welche Erfahrungen sie im Bereich Strukturstärkung gemacht haben.
Strukturschwächen im ländlichen Raum und die Rolle der Baukultur – zwei Themenfelder, mit denen Sie sich, aus unterschiedlichen Perspektiven, in Ihrer Arbeit beschäftigen. Was bedeutet Baukultur für Sie?
Yvonne und Michael Lammer Baukultur ist ein sehr umfassender Begriff. Er beschreibt eine Symbiose aus Architektur, Kultur, Gesellschaft und Politik, ein Konglomerat an Faktoren, die unser Lebensumfeld maßgeblich beeinflussen. Vor allem in strukturell schwachen Regionen ist Baukultur ein Garant für mehr Lebensqualität. In der Projektentwicklungsphase bedeutet dies für uns, einen regen Austausch mit den Bürger:innen beziehungsweise Nutzer:innen, die vor Ort leben, einzugehen, aufeinander zuzugehen. Dazu braucht es Vertrauen, und das muss man sich in ländlichen Regionen oft erst erarbeiten und dabei sensibel vorgehen. Im urbanen Kontext ist das Bauen etwas Alltägliches und somit etwas Bekanntes. Das Bauen am Land ist vielerorts eine emotionale Angelegenheit, weil sich die Menschen stark mit ihrem unmittelbaren Lebensraum identifizieren und Veränderungen daher zumeist mit Skepsis begegnen. Umso wichtiger ist es, alle Beteiligten von Anfang an aktiv in den Prozess einzubinden. Mit einfachen Mitteln wie Modellen und Schaubildern erklären wir die Qualitäten der baulichen Maßnahme, etwa ihre städtebauliche Lage, Orientierung und Zugänglichkeit, ihre Verortung und ihren Ausdruck. So können wir unsere Ideen allgemeinverständlich vermitteln und Identifikation stiften.
Raffaela Lackner Baukultur ist als ressortübergreifende Querschnittsmaterie auf Ebene des Bundes, der Länder und der Gemeinden zu verstehen. Baukultur wird in Gebäuden, Straßen und Plätzen ebenso sichtbar wie in Dorfzentren und der Kulturlandschaft. Gelungene Baukultur steigert die Lebensqualität, wertet Orte und Regionen auf und braucht daher besondere Aufmerksamkeit in der Projektvorbereitung – der Phase 0 – und der Planung. Zudem ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen wichtig.
Hier in Kärnten hat die Landesregierung 2018 15 Baukulturelle Leitlinien sowie Schlüsselmaßnahmen beschlossen, die in acht Kernthemen verankert sind. Sie werden seit damals abteilungsübergreifend umgesetzt, was zu vielen positiven, wichtigen Impulsen besonders auch im strukturschwachen, ländlichen Raum führt. Mit dieser Baukulturförderung unterstützt das Land Kärnten Gemeinden bei kommunalen Bauvorhaben fachlich und finanziell. Voraussetzung für erfolgreiche Projekte ist eine professionelle und strukturierte Begleitung, bei der schon ganz zu Beginn die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Dies beinhaltet die Feststellung des Bedarfs, die Erarbeitung eines realistischen Raum- und Funktionsprogramms, die Festlegungen von Kosten-, Termin- und Qualitätszielen sowie die Erstellung eines Finanzierungsrahmens.
Darüber hinaus braucht es eine leicht zugängliche Vermittlung und Bewusstseinsbildung auf unterschiedlichen Ebenen.
In Kärnten – wie auch in anderen Bundesländern wie dem Burgenland – wurde neben Veranstaltungen, Ausstellungen und Leitfäden 2021 der Baukulturlehrgang initiiert. In mehreren Modulen fördert der Lehrgang nachhaltig Baukultur und schafft Netzwerke. Der interdisziplinäre Lehrgang wird als Weiterbildungsmaßnahme zur Vermittlung baukultureller Werte für Gemeindemandatar:innen, Verwaltungsmitarbeiter:innen und Planer:innen angeboten. Die Kurse nehmen intensiven Bezug auf die regionalen Besonderheiten und aktuellen Entwicklungen im Land Kärnten und dabei auch auf den ländlichen Raum. Besonders politische Entscheidungsträger:innen bestimmen die Gestaltung unserer Räume für die nächsten Generationen. Baukultur schafft Identität und befördert einen Mehrwert für die Gemeinschaft.
Was sind strukturstärkende Elemente und was braucht es, um diese zu fördern?
Yvonne und Michael Lammer Beginnen wir gleich mit einem wesentlichen Grundbedürfnis, dem Wohnen. Im ländlichen Raum findet man vorwiegend Einfamilienhäuser. Zweifamilienhäuser sind selten und Mehrfamilienhäuser die Ausnahme. Das Angebot an qualitativem, hochwertigem und preiswertem Wohnraum ist rar, Siedlungsstrukturen mit Grundstücksgrößen von mehr als 1.000 m2 prägen den ländlichen Raum. Die Qualität des Landlebens ist für viele reizvoll, doch es gibt kaum zeitgemäße Wohnformen. Attraktive Wohnflächen, gemeinsame Benutzung von Sauna, Werkstatt, Autos, Terrassen und Grillplätzen sowie eine öffentliche Infrastruktur wie Nahversorgung mit Lebensmitteln, multifunktionale Gemeinschaftsräume, Betreuungs- und Bildungseinrichtungen sind essenziell, um Zuzug zu generieren.
Es bedarf auch Wohnformen, die flexibel an die Lebenssituation der jeweiligen Bewohner:innen und ihren unterschiedlichen Platzbedarf adaptierbar sind. Wo sich im Bereich der Arbeit die Gestaltungsformen zum Beispiel durch Homeoffice den gesellschaftlichen Anforderungen angepasst haben, hinken die Wohnformen noch stark hinterher.
Neben der Adaptierung des Wohnens befassen wir uns mit weiteren Themen wie dem Füllen von Baulücken, der Aktivierung innen liegender Flächen, der Revitalisierung von Leerstand – und wirken damit nicht nur neuen Widmungen von Bauland entgegen, sondern fördern auch eine Ortskernentwicklung im Sinne eines dörflichen Charakters im gewachsenen Ortsgefüge. Das Ziel ist Innenverdichtung statt Außenentwicklung.
Raffaela Lackner Kommunale Bauaufgaben können ein wichtiger Motor für die gesamte Entwicklung einer Gemeinde werden – oder auch einer ganzen Region, wenn Maßnahmen und Projekte zum Beispiel mit Nachbargemeinden umgesetzt oder geteilt werden. Kommunale Bauten spielen eine wichtige Rolle für das Gemeindeleben und werden, wenn es kein Gasthaus mehr im Ort gibt, auch zu wichtigen sozialen Treffpunkten. Durch den Erhalt und vor allem auch die Sicherung von zentrumsrelevanter Infrastruktur kann wieder Frequenz in aussterbenden Orten geschaffen werden. Ein multifunktionaler Mix aus Leben, Arbeiten, Wohnen sowie die Gestaltung der öffentlichen Räume, Betreuungs- und Bildungseinrichtungen spielen eine wesentliche Rolle bei Wohnsitzentscheidungen oder auch der Standortwahl von Unternehmen. Wichtig sind auch die Aktivierung von Leerstand, die Transformation und der Umbau bestehender Bauten, die Schaffung von vielfältigen Wohnangeboten, die Gestaltung der öffentlichen Räume und auch eine klimafitte Vision der Gemeinde. In Kärnten gibt es diesbezüglich unterschiedliche Maßnahmen mit gezielten Förderungen und ein Angebot der Begleitung von Gemeinden in diesem umfangreichen Transformationsprozess.
Welche grundsätzlich ähnlichen, aber auch projektspezifischen Problemstellungen gibt es bei den von Ihnen betreuten Projekten zu lösen? Welche Entwicklungen liegen diesen Ihrer Beobachtung nach zugrunde? Welche unterschiedlichen Akteur:innen können zu einer gelungenen Verwirklichung beitragen?
Yvonne und Michael Lammer Bauliche Veränderungen werden in kleineren Gemeinden sehr stark wahrgenommen und sind daher emotional aufgeladen. Dabei ist der partizipative Prozess von Anfang an ein sehr gut funktionierendes Instrument. Uns ist es ein Anliegen, dass wir den Menschen den Mehrwert für den Ort und für das soziale Miteinander verständlich darlegen. Oft gilt es, sich das Vertrauen zu erarbeiten, und es verlangt große Überzeugungskunst, damit die spezifischen Qualitäten verstanden, akzeptiert und mitgetragen werden. Wie ein Dirigent sein Orchester führt, so ist es unsere Aufgabe, alle Beteiligten zu hören, ihre Bedürfnisse zu verstehen und gemeinsam die beste Lösung für die Anforderung zu erarbeiten.
Oftmals bedarf es, um das große Ganze überhaupt erst entstehen zu lassen, kleiner Kompromisse, die aber die Qualität des Vorhabens nicht negativ beeinflussen dürfen. Jedes Projekt braucht auf jeder Ebene (Politik, Kommunen, Bauherrschaft, Nutzer:innen, Architekt:innen) eine:n begeisterte:n Befürworter:in. Wir scheuen keine kritischen Gespräche und suchen den Austausch mit unserem Gegenüber. Wir erläutern auch den ausführenden Gewerken unser Konzept und erklären unsere Gedanken zum Projekt. So ist für alle die Zieldefinition klar und es gibt keine Umwege.
Raffaela Lackner Die Herausforderungen sind vielfältig: Der demografische Wandel, die Transformation der Gesellschaft, die (meist) weibliche Landflucht, komplexe rechtliche und auch wirtschaftliche Rahmenbedingen und Aufgaben der Kommunen, die steigenden Energie- und Infrastrukturkosten, der Erhalt des Gebäudebestandes und vieles mehr beschäftigen die Verantwortlichen. Zudem gab es in der Vergangenheit immer wieder Fehlentscheidungen beim Bauen: Viele Geschäfte wurden am Ortsrand angesiedelt und die Zersiedelung gefördert. Das verbraucht nicht nur wertvollen Boden, es lässt auch die Infrastrukturkosten steigen.
Es braucht zum einen richtige Fördermodelle, eine fachliche und neutrale Begleitung sowie eine leicht zugängliche Vermittlung. Zum anderen muss sich eine Gemeinde mit sich selbst beschäftigen und wissen: Wer bin ich? Was will ich? Wohin will ich und welche Maßnahmen brauche ich dazu? Es darf nicht am Bedarf vorbeigebaut werden. Nur wenn eine Gemeinde Verantwortung für ihre Aufgaben übernimmt und die gesetzten Maßnahmen gut aufeinander abgestimmt sind, gelingt eine nachhaltige Entwicklung. Im ländlichen Raum geht es um die Gemeinschaft, und diese kann durch Baukultur gefördert werden. Unterschiedliche Nutzungen im Zentrum, ein kluger Umgang mit der bestehenden Gebäudestruktur, attraktiver öffentlicher Raum und eine Vision ergänzen einander. Die Fachabteilungen des Landes sind nicht nur Aufsichtsbehörde, sie sind vielmehr Unterstützer:innen, Vermittler:innen und Berater:innen. Für die Beratung braucht es gegenseitige Wertschätzung und eine gemeinsame Gesprächskultur, denn nur wenn alle Beteiligten vom selben reden, können sie in dieselbe Richtung gehen. Baukultur braucht Vermittlung, Optimismus und Vertrauen.
Yvonne und Michael Lammer
gründeten gemeinsam das Studio Scheiberlammer mit Sitz in Wolfsberg. Die Architektin und der Architekt erarbeiten in ihren Projekten angemessene Lösungen für Benutzer:innen und Gemeinden und generieren unter Beachtung ökologischer und nachhaltiger Kriterien ein Maximum an räumlicher und funktionaler Qualität. www.scheiberlammer.com
Raffaela Lackner
war 13 Jahre lang die Leiterin des Architektur Haus Kärnten und ist seit 2024 Ansprechperson für alle Themen rund um Baukultur in der Abteilung 3 – Baukultur und kommunales Bauen beim Land Kärnten.