Warum die Kultur jenseits des Bauens suchen oder „in“ Bauten – warum nicht gleich im Bauen selbst? Denn wo sonst könnte Kultur sich entfalten als durch „sichere“ Orte? Aber das allein genügt nicht. Sicherheit, der Schutz und das „Halten“ mögen für Ingenieure und Entrepreneure ein ausreichender Erklärungsgrund sein, aber wären dann nicht auch Höhlen schon Teil einer frühen Baukultur? Und das Holz? Ihm gebührt bei Vitruv die noble Aufgabe, der erste Baustoff des ersten richtigen Hauses zu sein. Freilich ist das nur eine Erzählung. Aber dann wiederum: Ist Kultur nicht immer eine Erzählung? Entsteht sie nicht erst, wo blindes Tun zu geschichtlicher Entfaltung findet, als Antwort auf Fragen nach dem Warum, Wohin und Woher? Aber Schritt für Schritt, zurück zu den Wurzeln.
Was sagt die Baugeschichte? Nikolaus Pevsner folgt in seiner „History of Building Types“ keiner kunsthistorischen Stil-Erzählung, er entwirft vielmehr einen faszinierenden Atlas. Große Bauwerke werden über die Jahrhunderte nach Funktionen und Materialien aufgeschlüsselt, von Denkmälern bis zu Fabrikgebäuden; den spekulativen Beginn sucht er nicht. Auch der Holzbau fehlt, das einfache Wohnhaus. Holz zählt in den 1970er Jahren offenbar nicht zu den „neuen Materialien“, die fortschrittlich Baukultur stiften. Sie hat nichts mit Tschardake und Troadkasten zu tun – sogar der heutige Holzhochhausbau schüttelt da den Kopf. Aber ganz unrichtig ist es ja doch nicht, dass man hölzerne Städte und urzeitliche Pfahlbauten gemeinhin nicht mit unserer Baukultur verbindet. Mit etwas Geduld findet sich jedoch auch bei Pevsner Holz und sogar ein Anfang: in den neuen Möbeln von San Marco bei den Dominikanern um das Jahr 1438. Michelozzo errichtet in Florenz den Urtypus einer öffentlichen Bibliothek unter den Haupt- und Seitenschiffen eines eigentlichen Kirchentypus, unter Gewölben mit recht unvitruvianischen Säulenarkaden. Auf üppigen, hölzernen Voluten ruhen schwere Pulte, besetzen die Raummitte. Schließlich ist der Buchdruck noch nicht erfunden und Pergamente beanspruchen ihren Platz. In diesem frühen Kulturraum folgen die Tischler steinernen Vorbildern. Dabei müssen sie nicht kleinlaut sein: Aloys Hirt weiß viel später, zur Gründungszeit der Berliner Bauakademie, dass es umgekehrt gewesen ist, dass der steinerne Tempelbau mit all seinem schmucken Vokabular – Säulen, Voluten und Co. – vom Holzbau und Formenschatz der Zimmerleute abstammt. Kultur beginnt allerdings nicht am Feiertag. Sie wird im Wohnhaus gestiftet, wo Alltag, Kult und Gemeinschaft an einem Ort versammelt sind. Palladios Villen erinnern daran, dass das Wohnhaus typologisches Vorbild der Tempel war. Und die Moderne wird das nochmals mit der „Erfindung“ des Wohnens unterstreichen.
Wo also liegt der Beginn, wo wäre das erste Haus zu finden? Henry David Thoreau baute doch diese ominöse Hütte in den Wäldern von Concord. Nicht nur über Kosten und Beschaffenheit gibt er in „Walden“ genaue Auskunft. Sein hölzernes Einzimmerhaus ist die gebaute Kritik schlechthin an einer Gesellschaft, aus der man zurücktreten muss in den Wald, um sie unverzerrt zu sehen. Thoreau wollte für sich sein, bei sich sein, um nicht irgendwann erkennen zu müssen, nicht gelebt zu haben. Die Urhütte ist hier Ausdruck eines radikalen Individualismus, steht für eine tiefe Empörung über die selbstverschuldete Finanzlage der Bauern im Nordamerika des 19. Jahrhunderts, über die ambivalente Sicherheit bürgerlichen Statusgebarens, über Sklavenhaltertum und Selbstversklavung, nicht zuletzt über die Brutalität gegenüber der indigenen Bevölkerung, die sich dem westlichen „Fortschritt“ entzieht und lieber in „Zelten“ leben bleibt. Gewissermaßen beginnt ein kulturkritischer Neuanfang auch hier mit der Urhütte. Den Beginn dieses Beginnens schreiben wir bekanntlich Vitruv zu; er hat den „Initium-Topos“ erstmals niedergeschrieben und so kulturell fruchtbar gemacht. Immer wieder einmal wird er neu belebt, weil Kultur Anfänge stiftet und vice versa. Zwar schwingt auch gehörig Märchenhaftes in Vitruvs antiker Spekulation mit, aber auch für ihn gibt es Architektur nur, wo Menschen zusammenfinden, wo sie planend eine Welt aufstellen. An diesem Anfang, noch bevor es zum Baustoff werden kann, brennt das Holz. Es braucht keinen Prometheus, die Zweige im Wald haben sich im Sturm heftig aneinandergerieben – oder war es doch ein Blitz, der das erste Feuer entfachte? Jedenfalls wird es schön warm. Ein glimmernder Lichtraum verdrängt die Dunkelheit, die Urmenschen sammeln sich, werden leutselig und nach dem ersten Schrecken erkennen sie den Nutzen. Sie tauschen Laute aus, organisieren sich. Los geht’s!
Später, bei Marc-Antoine Laugier in der Mitte des 18. Jahrhunderts – einem Fan Rousseaus –, errichtet wieder nur einer die Urhütte aus Baumstämmen, mit Balken und Giebelchen, um dem Klassizismus ein Fundament zu errichten. Doch auch vor dem Jahre Null eifern Vitruvs Menschen beim Bauen der Natur nach, bevor aus der Urhütte nach und nach „building types“ werden können, mit denen die Postmoderne à la Aldo Rossi ernst-ironische Spielchen treiben wird. Mimesis begründet Technik – und „Stil“. Der Kreis schließt sich.
Gottfried Semper hat bereits im Wechsel von Holz zu Stein – dem „Stoffwechsel“ – geradezu das Ideal der Baukunst entdeckt: dass sie sich lösen könne vom naturhaften Grund der Dinge, Ideen als Form auf andere Materialien übertragen könne, um so den Lauf der Zeit zu überdauern. 1851 entdeckt er im immensen Glastunnel des Crystal Palace zwischen Sprachen und Kulturen einer globalen Welt bei den Indigenen der Karibik einen realen wie imaginären Urbau. Und wieder steht der Baustoff Holz in Beziehung zum kulturentfachenden Feuer, das tektonische Holzdach schützt den Herd im Zentrum des Lebens. Das Feuer ist zu Form und Nutzen gebändigt, im Wohnzimmer wird getratscht.
Die Urholzhütte – sie steht am Beginn und symbolisiert ihn zugleich in einer Kultur als Angelegenheit häuslichen Friedens durch ein Bauen, das nach der einfachsten Hütte fragt, um zur Kunst zu werden. Nur die Natur und die Sprache gehen ihm voraus, alles Weitere folgt mit dem Dach über dem Kopf. Und so ist es ja noch heute: Wenn nicht das um uns Wachsende gedeiht, wann es verbrennt in der Hitze des draußen vom Menschen entfachten Feuers und wenn Kultur hierfür keine ehrlichen Worte findet, dann schwindet sie. Kultur ist Pflege des großen Zusammenhangs. Architektur kann hierfür einen Ort bereiten, an dem man das begreifen kann.