Kunstproduktion und Kunstpräsentation
1968 errichtete Architekt Paul Friedrich Posenenske für die Kunsthochschule Kassel den sogenannten Nordbau, ein Gebäude mit einer außen liegenden Stahlkonstruktion, die über die Wände aus Sichtbeton und die Fassaden aus Glas und Leichtmetallelementen greift. Der Hochschulbau gilt als herausragendes Beispiel der deutschen Nachkriegsmoderne und liegt am Rand der Karlsaue, einer innerstädtischen barocken Parkanlage. Täglich gehen hier zahlreiche Spaziergänger:innen vorbei. Sie haben dabei auch Einblick in einen halboffenen Innenhof der Kunsthochschule. In diesem stehen nicht nur ein paar von Joseph Beuys gepflanzte Eichen, hier befindet sich auch seit ein paar Jahren ein neuer Kunstraum, der den Student:innen der Kunsthochschule als Ausstellungsfläche und Werkstätte dient.
Schon Posenenske hatte diesen Innenhof als Erweiterungsfläche vorgesehen. Doch erst 2017 schrieb die Hochschule für den Erweiterungsbau einen geladenen Wettbewerb aus, den das Vorarlberger Architekturbüro Innauer-Matt für sich entscheiden konnten. Sie selbst sagen – im Gespräch mit Arno Ritter, dass sie immer materialneutral entwerfen und doch biografisch eine Nähe zum Holz haben. So hatten sie auch keine Scheu, für eine Bauaufgabe, bei der viele einen White Cube vor Augen haben, und in einem Umfeld, das von Stahl, Glas und Beton geprägt ist, einen Holzbau vorzuschlagen.
Der Neubau ist ein 16,4 mal 30,4 Meter großer, mit einer dunklen Holzfassade bekleideter Kubus, der sich mit seinem eigenständigen und modernen Ausdruck wie selbstverständlich in das denkmalgeschützte Umfeld einfügt. Den Architekten gelang der Spagat zwischen Alt und Neu, zwischen der Ästhetik der Nachkriegsarchitektur und der eines modernen Holzbaus, indem sie charakteristische Elemente des Hauptbaus aufgriffen und in eine dem Holzbau angemessene Sprache überführten. Der Kunstraum ist ein Holzmassivbau mit Wänden aus 30 cm dicken Brettsperrholzplatten und einer Holzfaserdämmung. U-Profile aus Titanzinkblech auf der Höhe der Träger und Stützen gliedern die Fassade und sind eine Reverenz an das Stahltragwerk von Paul Friedrich Posenenske. Die Fassade aus sägerauem Lärchenholz ist wie die Stahlkonstruktion des Hauptbaus schwarz gestrichen.
Besonders auffällig an dem dunklen Kubus sind die über 800 Linsen, die in die Außenwand eingelassen sind und diese mit einem gleichmäßigen Muster überziehen. Wie unendlich viele Augen durchbohren die Glaslinsen den Baukörper und bringen gleichmäßiges, diffuses Licht ins Innere. Diese Glaslinsen sind nicht einfach nur dekorativ, sondern folgen einer funktionalen Logik. Gutes Licht ist für Kunstproduktion und -präsentation gleichermaßen elementar. Es darf nicht zu hell und nicht zu dunkel sein, am besten ist Nordlicht oder diffuses Licht. Aus diesem Grund entwickelten Markus Innauer und Sven Matt gemeinsam mit dem Hersteller Glas Marte in Vorarlberg die hier verbauten Linsen. Sie bestehen aus einem kleinen runden Stück Isolierglas, einem Edelstahlrohr, einer Styropordichtung und einem Dichtungsgummi. Im Zuge der Vorfertigung wurden die Linsen in die Brettsperrholzwände eingeklebt. Dabei war entscheidend, dass sie in verklebtem Zustand komplett dicht und trocken sind, damit sie nicht anlaufen.
Der Kunstraum ist ein frei stehender Kubus ohne Vorder- und Rückseite. An allen vier Seiten befinden sich verglaste Eingangstüren aus naturbelassenem Eichenholz, die vollflächig geöffnet werden können, sodass an schönen Tagen oder bei Veranstaltungen der Innen- und Außenraum eins werden. Mit ihrem hellen Holzton heben sich die Türen deutlich von der dunklen Fassade ab und leiten über in den Innenraum, der durch und durch mit hellem Holz bekleidet ist. Eine in Quadrate gegliederte konstruktive Rasterung gibt im Inneren den Ton an. Im Bereich der Tragkonstruktion sind Deckenschienen eingelassen und erlauben den Student:innen, den 480 m2 großen Raum innerhalb des vorgegebenen Rasters mit verschiebbaren Wandelementen in kleinere Einheiten zu unterteilen.
Der Raum dient als Werkstätte und Ausstellungsfläche, als Ort der kreativen Produktion. Und doch fürchtete die Hochschulleitung um die Holzwände, wollte deren „schöne“ Oberfläche erhalten und untersagte anfangs deren Nutzung. Markus Innauer sprach sich aber explizit für eine Bespielung aus und ermutigte die Student:innen bei der Eröffnung, ruhig auch Dinge an den Wänden anzubringen. Defne Kizilöz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunsthochschule Kassel und Koordinatorin des neuen Kunstraums.
Sie erzählt, dass es Zeit brauchte, bis die Student:innen lernten, die neuen Rahmenbedingungen zu akzeptieren und zu schätzen. Statt weißer Wände und hellen Lichts gibt es hier eben Holzoberflächen und Glaslinsen. Defne Kizilöz erzählt, dass die Student:innen im Laufe der ersten Jahre dann aber doch begannen, mit dem oder gegen den Raum zu arbeiten. Seitdem entstehen immer wieder Arbeiten, die explizit für diesen Raum geschaffen wurden. Herausfordernd für die Student:innen sind auch die mobilen Innenwände, die viel Gestaltungsfreiheit bieten. „Je schwieriger ein Raum, desto besser die Lehre“, sagt Defne Kizilöz und berichtet von einem weiteren Benefit des Raums, den anfangs vielleicht keiner so im Blick hatte: „Der Raum hat eine sehr gute Akustik und eignet sich deshalb hervorragend für die Präsentation der Arbeiten der Film-, Multimedia- und Soundkunst.“ Für die Malklassen wurden jetzt aber doch noch klassische weiße Stellwände angeschafft.