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Stubenschopf und Rentiergeweih
Museen für Heimat, Handwerk, Traditionen

erschienen in
Zuschnitt 96 Inszeniert in Holz, März 2025

Das neue Zentrum für samische Kultur Čoarvemátta liegt in der Mitte von Norwegens größter und nördlichster Hochebene. Das Museum Bezau befindet sich in der gleichnamigen Bregenzerwälder Gemeinde. Ersteres liegt als organisch geschwungenes Gebäude mit 7.200 m2 Fläche in der kargen Hügellandschaft, Zweiteres hat die Dimension eines Bauernhauses. So unterschiedlich die Voraussetzungen auch scheinen – an beiden Orten findet regionale Kultur in der Architektur ihre Entsprechung. Beide Gebäude beherbergen Kultur und Handwerkskunst und kommunizieren diese zugleich in zeitgemäßer Form nach außen. Sie sind bedeutend für die lokalen Gemeinschaften und so etwas wie lebendige Exponate für das, was sie vermitteln. Ein Blick auf beide lohnt also gleichermaßen.

Das denkmalgeschützte Gebäude, das die Vorarlberger Architekten Markus Innauer und Sven Matt in ihrer Heimatgemeinde um- oder besser weitergebaut haben, ist in seinem Ursprung über 450 Jahre alt. Der Stall war schon lange verfallen und abgetragen, der traditionelle Strickbau außer Proportion geraten. Leer stand das ehemalige Bauernhaus jedoch nie, denn Anna Katharina Feuerstein, Ehefrau eines reichen „Käsegrafen“ aus der Umgebung, gründete hier vor hundert Jahren den ersten Frauenverein und in der Folge einen Heimatverein und ein Heimatmuseum, eines der ältesten Vorarlbergs. Die bemerkenswerte Frau wollte die Kulturgüter ihrer Region retten und beschaffte die notwendigen Ressourcen dafür. Der Museumsverein spielt hier auch heute noch eine tragende Rolle, ebenso wie es noch immer die Geschichte der Frauen ist, die einen wichtigen Aspekt in der inhaltlichen Neukonzeption des Museums darstellt. Sie waren es nämlich, die als Heimarbeiterinnen die Stickereitradition im Bregenzerwald begründeten, die später, mit Einführung der Stickmaschinen, in ein höchst aktives Unternehmertum überging. Die Frauen erwirtschafteten oft deutlich mehr Einkommen als die Männer mit ihren Landwirtschaften, waren unabhängig und konnten verhindern, dass ihre Familien abwandern mussten. Letzteres ist eine Tatsache, die auch heute noch den Bregenzerwald auszeichnet. Parallel dazu wird im Museum die nicht weniger spannende Geschichte der Bregenzerwälder Barockbaumeister erzählt, in der sich zahlreiche Parallelen zum Umbau des Hauses finden lassen. Angesehene Handwerker – Zimmerleute, Maurer und Steinmetze – zogen für jeweils neun Monate im Jahr nach Süddeutschland, in die Schweiz und nach Frankreich, um dort als Generalunternehmer den Bau von Kirchen und Klöstern zu leiten. Das Können brachten sie zurück in die Talschaft, gründeten Zünfte und bildeten Handwerker aus – der Grundstein für die heutige, überregional geschätzte Baukultur und Handwerkskunst der Region. Dieses enge Zusammenspiel zwischen architektonischer und handwerklicher Kompetenz prägt auch das Bauprojekt von Innauer Matt, das Alt und Neu zu einem räumlichen wie inhaltlichen Ganzen verwebt.

Moderne Ergänzung für den historischen Strickbau

Ein neues Ganzes wurde das Gebäude in einem ersten Schritt durch die Ergänzung des Wirtschaftstraktes. Der historische Strickbau bekam mit dem vorgefertigten Holzrahmenbau eine zeitgemäße Vervollständigung. Der „Schopf“ des Hauses – die tiefe Veranda und Erweiterung der Stube der traditionellen Wälderhäuser – wurde in seiner Flucht weitergezogen und bildet die gedeckte Eingangssituation des Museums. Alt und Neu zusammen stellen die klassische Typologie wieder her und sind an der Fassade klar abzulesen: Holzschindeln beim Vorderhaus, eine einfache Brettschalung beim Hinterhaus. Im Inneren bietet die Erweiterung, auf drei Ebenen verteilt, flexible Räume für einen modernen Museumsbetrieb. Die atmosphärische Abfolge ist dabei genau durchdacht und erzeugt spannende Kontraste: Das Erdgeschoss öffnet sich großzügig zum Landschaftsraum, im mittleren Stockwerk herrscht eine introvertierte, fast intime Stimmung, der hohe, helle Giebelraum darüber empfängt die Besucher:innen mit einem unerwarteten, neuen Raumeindruck. Eine präzise gesetzte Öffnung fungiert dort als fast sakrales „Fenster zum Dorf“. Über schmale Vertikalräume sind die Stockwerke miteinander verwoben und greifen wie Zwiebelschalen ineinander. Eine besondere räumliche Spannung entsteht an den engen Durchstoßpunkten zwischen altem und neuem Gebäudeteil, wo niedrige Türen zum Bücken zwingen. Konstruktiv und in seiner Materialität knüpft das Bauwerk an die Tradition der Barockbaumeister an und macht in jedem Detail das wertschätzende Zusammenspiel von Handwerk und Architektur spürbar: In den massiven Mann-an-Mann-Balkendecken, den Bodendielen aus Fichte, dem, in Anlehnung an die historischen Rauchküchen weiß gekalkten, sägerauen Wandtäfern und den Museumsmöbeln aus massiver, lediglich geseifter Esche. Bis auf den Lift, so erzählen die Architekten, sei hier alles in einem Umkreis von 20 km produziert, mit eigenem Holz von Mitgliedern des Museumvereins. Lokale (Bau-)Kultur manifestiert sich in diesem bemerkenswerten kleinen Museum in Substanz wie Inhalt gleichermaßen.

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Ein Zentrum der samischen Kultur im hohen Norden

Die lokale Kultur am norwegischen Finnmarksvidda-Plateau ist diejenige der Sami, der indigenen Bewohner:innen der nördlichen Regionen Skandinaviens und Russlands. Das Kultur- und Bildungszentrum Čoarvemátta, geplant von Snøhetta mit dem Architekturbüro 70°N arkitektur und dem Künstler Joar Nango, verbindet zwei wichtige Einrichtungen der Region – das Sámi Nationaltheater und eine höhere Schule, die Sámi Highschool, in der neben modernen Unterrichtsfächern auch Rentierhaltung und traditionelles Kunsthandwerk gelehrt werden. Der Name der Einrichtung leitet sich von den samischen Wörtern für „Horn“ und „Wurzel“ ab und bezeichnet den innersten Teil des Rentiergeweihs – eine Form, die sich im Grundriss des Gebäudes mit seinen drei sich verzweigenden „Armen“ wiederfindet. Der zweistöckige Holz-Beton-Hybridbau duckt sich organisch in die karge Landschaft, er liegt dort „wie ein Stück grauer Knochen“, so die Architekten. Während der Bauzeit wurde das gesamte abgetragene Erdreich mit seinem Saatgut konserviert und nach Fertigstellung wieder rund um das Gebäude aufgebracht, um die sensible Plateaulandschaft so gut wie möglich intakt zu halten. Holz und Stein als prägende Materialien des Čoarvemátta finden sich in der vertikalen Fassadenschalung aus Kiefernholz, in der Verkleidung der gewaltigen geschwungenen Dachfläche mit furfuryliertem Holz und im lokal abgebauten Schiefer der Außenwand des Theatersaales.

Im Inneren stellt die Architektur an vielen Stellen zeitgemäße Bezüge zur samischen Baukultur und Handwerkskunst her. Die zentrale Aula, das Herz des Hauses, interpretiert in ihrer Struktur die leichten Holzkonstruktionen nomadischer Rentierzüchter in Brettschichtholz, das Oberlicht ist dem Rauchloch ihrer Zelte nachempfunden. Dieser Raum ist gemeinschaftlicher Treffpunkt und Verteiler in die drei funktionalen Flügel des Hauses – Schule, Theater und Verwaltung. Nicht zuletzt aus der Interaktion der beiden Einrichtungen entsteht die positive Wirkung des Gebäudes. Aspekte der regionalen Kultur nehmen die Architekten auch im Farbkonzept auf. Von warmen Rottönen in der Gebäudemitte entwickelt sich die Palette nach außen hin zu kühlen Blautönen. Ein System aus vierzig Geothermiebrunnen sorgt dafür, dass das Gebäude seinen Heiz- und Kühlbedarf zu 90 Prozent autark decken kann. „Die Schule, das Theater und das Gebäude stehen allen offen, unabhängig von ihrer Herkunft. Wir hoffen, dass es ein Träger und Vermittler der samischen Geschichte, Traditionen und Kultur sowie ein Treffpunkt für die Gesellschaft sein wird“, so der Projektleiter von Snøhetta, Bård Vaag Stangnes. Übertragen auf eine gänzlich andere Region mit anderen kulturellen Bedingungen, gilt dies auch für das Bregenzerwälder Museum, mehr als 3.000 km weiter im Süden.

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verfasst von

Nicola Weber

ist Kuratorin und Kulturjournalistin in Innsbruck. Sie leitet das Tiroler Designforum Weissraum und schreibt über Architektur, Grafik, Design und Stadtentwicklung.

Erschienen in

Zuschnitt 96
Inszeniert in Holz

Bauten für kulturelle und künstlerische Nutzungen

8,00 €

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Zuschnitt 96 - Inszeniert in Holz