Auf die Anfrage „Lebendige Architektur“ spuckt die Suchmaschine Ergebnisse aus, in denen alles lebendig ist – nur die Architektur nicht. Menschen, Pflanzen, Lichtspiele oder Farben wirken belebend, so dass auch eine „reduzierte Villa in Bauhausästhetik“ als lebendig angepriesen wird. Meist handelt es sich um konventionelle Bauten aus leblosen Materialien, deren Fassaden, Terrassen oder Balkone mehr oder weniger stark begrünt sind, was das gute Gefühl vermitteln soll, etwas für Klima, Biodiversität und die eigene Gesundheit zu tun. Lebendigkeit ist ein Verkaufsargument für anspruchsvolle Architektur. Auch für Baumaterialien wie Holz ist sie ein beliebtes Attribut. Pflanzen sind zwar nicht sofort völlig tot, wenn man sie in Stücke schneidet, aber lebendig sind die Einzelteile auf Dauer nicht. Dass wir Holz dennoch als „atmend“ empfinden, liegt an seiner organischen Zellstruktur, durch die es auf äußere Einflüsse mit Quellen und Schwinden reagiert. So weit, so konventionell. Aber was wäre, wenn Gebäude nicht gebaut, sondern gepflanzt würden? Wenn sie wirklich lebendig wären – mit Rinde statt Putz, mit Ästen statt Trägern? Und was wäre, wenn sie dadurch nicht nur anders aussähen, sondern auch aktiv zur Lösung unserer städtischen Klimaprobleme beitrügen? Diese Fragen stellte sich Ferdinand Ludwig, Professor für Green Technologies in Landscape Architecture an der TU München, und begann mit seinen Forschungen zur Baubotanik. Die Idee: Architektur nicht gegen, sondern mit der Natur denken – auf Augenhöhe. Das klingt zunächst romantisch, ist aber systemisch gedacht, technologisch durchdrungen und konkret entwickelt. Das Konzept ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung, die Ludwig interdisziplinär zwischen Architektur, Botanik und Bauingenieurwesen vorangetrieben hat. Er will mit seinen Erkenntnissen nicht nur Architektur begrünen, sondern das Verständnis von Baukultur revolutionieren.
Vom Dekogrün zur tragenden Struktur
Die Baubotanik schafft eine neue Kategorie von Bauwerken, bei denen lebende Pflanzen – insbesondere Bäume – integraler Bestandteil der Tragstruktur sind. Die Vision: eine pflanzlich-technische Verbundstruktur, in der Natur und Architektur so eng miteinander verwoben sind, dass sie nicht mehr als Gegensätze erscheinen. Dabei wächst das Haus im wahrsten Sinne des Wortes mit der Zeit, verändert sich, altert, wird dichter, grüner, kühler. Planung trifft Wachstum, Gestaltung trifft Biologie, Architektur trifft Geduld.
Architekt:innen halten, wenn es um ihre Bauten geht, nur wenig von Überraschungen. Was Ludwigs Idee für den architektonischen Entwurf bedeutet, dürfte daher klassisch geprägte Architekturschaffende geradezu erschüttern: Weniger Kontrolle? Der Baum als Mitautor des Entwurfs? Raum für Überraschungen? „Wir müssen damit leben, dass sich die Dinge ändern“, sagt Ludwig. „Die totale Kontrolle der genialen Architektin, die genau sagt, wie es auszusehen hat, können wir uns nicht mehr leisten.“ Damit stellt er das Selbstverständnis des gesamten Berufsstandes auf den Kopf. Den geforderten Paradigmenwechsel begründet Ludwig auch mit der Wirksamkeit der Baubotanik. Dekorative Begrünung nimmt nur eine geringe Menge CO2 auf, die nicht annähernd an die Emissionen heranreicht, die beim Bauen und Betreiben eines solchen Hauses entstehen. Sie ist also nichts weiter als ein kosmetischer Eingriff. Im Gegensatz dazu ist die Baubotanik ganzheitlich und sehr effektiv. Sie kann das Mikroklima aktiv verbessern: Verdunstungskühle erzeugen, beschatten, Wasser puffern und Biodiversität im großen Maßstab fördern. In einer Zeit, in der Städte unter Hitzeinseln, versiegelten Flächen und Wasserknappheit leiden, ist das eine Überlebensstrategie.
Eine neue Ästhetik
Die Praxis zeigt, dass Baubotanik eine faszinierende Ästhetik hervorbringen kann, wenn man den Bäumen einen Teil der Kontrolle über das Erscheinungsbild überlässt. Der Platanenkubus in Nagold wurde bereits 2012 für die Landesgartenschau errichtet. Das dreigeschossige Bauwerk besteht aus lebenden Platanen, die so angeordnet und verbunden wurden, dass sie eine begehbare Struktur tragen – keine Attrappe, sondern eine echte, wachsende Tragkonstruktion. Um die Bäume von Anfang an in die gewünschte Form zu bringen, wurde ein Verfahren namens Pflanzenaddition angewandt: Auf mehreren Ebenen wurden vorgezogene Bäume so kombiniert, dass sie zu einer Einheit zusammenwuchsen. Das Ergebnis: ein 400 m2 großer Raum mit einem grünen Tragwerk, das sich ständig weiterentwickelt. Wer das Gebäude heute besucht, sieht nicht mehr das Projekt von 2012, sondern die aktuelle Phase – denn Baubotanik ist Prozessarchitektur. Ein weiteres Beispiel ist die Arbor Kitchen – ein Lehrforschungsprojekt an der TU München, bei dem gemeinsam gekocht und geforscht wird. Es geht hier nicht nur um Architektur als Hülle, sondern um die Frage, wie Räume des sozialen Miteinanders entstehen können, in denen auch Pflanzen zentrale Akteure sind. Die Bäume sind nicht Dekor, sondern gestalten das Raumgefühl mit. Wer dort sitzt, sitzt eben nicht unter einem Baum, sondern in der Baumkrone.
Noch einen Schritt weiter geht ein aktuelles Bauprojekt in Bamberg. Dort wird erstmals ein sozialer Wohnungsbau mit einer Baumfassade realisiert. Das Gebäude ist massiv gebaut, aber es wächst – durch 7 bis 9 Meter hohe Bäume, die die Fassade begrünen, verschatten, kühlen und zu einem lebendigen Filter machen. Die Bäume wurden in der Baumschule vorgezogen und auf das Gebäude abgestimmt – botanisch-architektonische Maßarbeit. Auch die Wahl der Arten erfolgte mit Blick auf Bewohnerakzeptanz: keine läuseanziehenden Exemplare, keine allergenen Blüten, kein übermäßiger Pflegeaufwand. Die Integration der Baumstruktur ist kein Add-on, sondern Teil des Entwurfs. Perspektivisch könnten die Bäume durch Laubengänge wachsen oder Teil der Balkonlandschaft werden. Dann tritt man direkt in die Krone – mit Aussicht und Schatten inklusive. Hier wird Baubotanik erstmals im Alltag getestet – nicht im Park, sondern im sozialen Wohnen. Das ist auch eine politische Geste. Zudem steht das Projekt exemplarisch für ein neues Verständnis von Architektur als Stoffwechselorgan. In vielen Städten fällt mehr leicht verschmutztes Grauwasser (aus Dusche oder Waschbecken) an als Regen. Warum es also nicht zur Bewässerung verwenden? Das ist technisch längst machbar, wird aber rechtlich oft noch blockiert. Dabei löst die blaugrüne Architektur nicht nur Probleme, sie verbindet Lebensbereiche, die lange getrennt gedacht wurden. Und sie macht sichtbar, dass Kreisläufe nicht abstrakt sind, sondern konkret erfahrbar – im Schatten eines Baumes, der von unserem Duschwasser lebt. Die Baubotanik kann nicht nur die massive Verschwendung von Trinkwasser beenden – sie begreift Wasser, Luft und Pflanzen wieder als zusammenhängendes System.
Wirklich lebendige Architektur
Holz gilt als Material der Zukunft, ob tot oder lebendig. Ludwig sieht im lebenden Baum die konsequenteste Form der Ressourcenschonung und effektivste Hilfe gegen Hitze. Und für den Menschen wäre die Natur nicht mehr nur irgendwo draußen, sondern in den Alltag integriert. Der Forscher betont auch, dass wir die vielbeschworene Bauwende mit einer Landschaftswende verbinden müssen. Denn das Bauen hat immer Auswirkungen auf mindestens zwei Standorte: dort, wo das Gebäude steht, und dort, wo das Material der Landschaft entnommen wird. Kurz gesagt: „Wer mit Holz baut, gestaltet den Wald mit.“
Natürlich bringt das neue Herausforderungen mit sich. Pflege, Zeit, Normierung – all das muss neu gedacht und gelernt werden. Bäume wachsen nicht nach DIN. Ihr Verhalten ist wetterabhängig, jahreszeitlich, individuell. Es braucht Planende mit botanischen Kenntnissen, Tragwerksplaner:innen mit Geduld, Bauherr:innen mit langem Atem. Und es braucht eine Gesetzgebung, die mitwächst. Ludwig begegnet all dem mit Pragmatismus. Die Baukultur, so seine These, sei bereit für ein neues Kapitel: eines, das nicht in Kubikmetern misst, sondern in Jahren, Kronenbreiten und Luftfeuchtigkeit. Eine Verschmelzung von Architektur und Vegetation – das ist wirklich lebendige Architektur.