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Essay
Kultur desÜbergangs
Der Augenblick, in demman eine Türschwelle überschreitet, wurde immer als
einMoment von Bedeutung empfunden. Als Grenze zwischen drinnen und
draußen, als Trennung und Öffnung war die Schwelle in allen Kulturenmit
Zauber, Opferzwängen und Ritualen belegt.
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Nochmehr als ihr Teilstück, die Schwelle, erforderte die Tür als Ganzes die
Vorsorge dessen, der sie passierte. Tür und Tor sind aufrecht stehende, unüber-
sehbare, den Eintretendenwie Abschiednehmenden vollständig umfassende
Rahmen, die denÜbertritt aus dem einen in den anderen Bereichmarkieren.
Eine Schwelle kannman versehentlich übertreten, die Türöffnung dagegen nicht
unwissentlich durchschreiten.
Da die Tür mit ihrer Außenseite an der Öffentlichkeit von Straße undMarkt
teilnimmt, war sie zugleichOrt juristischer Handlungen. Inmanchen Kultur-
kreisen fanden Gottesurteile an oder vor der Tür statt, wurden Eide abgelegt,
während die Hand des Schwörenden auf der Tür lag. Vor allem die Kirchentür
war mit öffentlichenHandlungen und Rechtsgeschäften verbunden. Sie ver-
hieß Asyl, war aber auch der Ort, an dem die geistlichenHochgerichte tagten,
an dem kirchliche undweltliche Territorialherren Recht sprachen.
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Auch sozialer Rang entschied sich an der Tür. Wer als Erster passieren darf, ist
der Höhergestellte. Das Recht des Vortritts hat die Zeremonienmeister aller
Jahrhunderte beschäftigt, bis hin zu den Benimmbüchern unserer Tage. Im
Nibelungenepos spitzt sich der Konflikt in jener Szene zu, in der die Königinnen
um das Recht streiten, als Erste dasWormser Münsterportal zu durchschreiten.
Dienstboteneingänge sind noch bei Le Corbusiers frühen Villen von denHerr-
schaftseingängen getrennt und als untergeordnete Einlässe charakterisiert.
Wo die Tür ihrer Bestimmung als Öffnung und Verschluss nachkommt, besteht
sie, ihrer Doppelrolle entsprechend, aus zwei Elementen: der Türöffnung, die
meist durch einen Rahmen gefasst ist, und dem Türverschluss.
Dass Pforten, Türen und Portale noch heute Orte größerer Formendichte dar-
stellen, hat eine Vielzahl von Gründen. Es hängt mit dem Verhältnis der relativ
kleinenÖffnungs- zur relativ großenWandfläche zusammen: Die kleine Fläche
lädt zur intensiveren Bearbeitung ein. Das ist durch dieWahrnehmungsbedin-
gungen an der Tür beeinflusst: Wer wartet, bis man ihm auftut, wird aus nächs-
ter Nähe betrachten, was ihm vorläufig noch den Zutritt verwehrt. Hinter
der Formendichte des Eingangsbereichs steckt aber auch die gesamte Über-
lieferung anmagisch-mythischen Bedeutungen, die sichmit Ein- und Ausgang
verbinden – inwie verblasster Form auch immer.
Je größer Offenheit und Transparenz, destomehr verloren Tür und Tor ihre
klassischen Funktionen. Neuzeitliche Ingeniosität gilt der anstrengungslosen
Abwicklung von Bewegungsvorgängen. Stufen und Schwellenwerden unter
dem Vorwand der Unfallgefahr beseitigt. Die teilweise oder – seit Erfindung
des bruchfesten und splitterfreien Sicherheitsglases – ganz verglaste Tür trägt
zur Gleichbehandlung von innen und außen bei. Der ungehinderte Blick erfasst
das jeweils hinter der Tür liegende andere, bevor der Fuß es betritt. Erwartung,
Neugier und Furcht werden auf einMinimum reduziert. Warmluftschleusen
oder Schiebetüren, die dienstfertig vor dem Eintretenden auseinanderspringen,
entheben den Besucher auch noch der letzten Anstrengung.
Die Behauptung, außen und innen, der allgemein verfügbare und der verschlos-
sene individuelle Teil des Raumes, würden auf dieseWeise sozusagen demo-
kratisch behandelt, als ein und dasselbe, leuchtet nicht ein. Ist es demokratisch,
dieMenschen der Abweichungen und Besonderheiten zu berauben, ihnen
die Unterschiede zwischen Preisgegebenheit und Geborgensein, Offenheit
und Schutz zu nehmen? Die archaische Tür wurde zummodernen Eingang,
der nichts anderem dient als der zweckmäßigen Erschließung des Bauwerks.
Sogar die bescheidenstenNebenaufgabenwurden nachMöglich-
keit von der Tür entfernt. Den Türklopfer ersetzte die Klingel an
der Seite, den Postschlitz der frei stehende Hausbriefkasten oder
Zeitungshalter.
Die zeitgenössische Fachliteratur zum Thema diskutiert, was von
der Kunst des Türenbauens übrig geblieben ist. Sie stellt die
zuständigen
din
-Normen dar; die Richtmaße für Breite undHöhe;
die Arten des Anschlags; die heute üblichenWerkstoffe wie Holz
(„gesund, trocken, ast- und harzfrei“), eloxiertes Leichtmetall,
Stahl, die unterschiedlichenGlassorten; die Türbeschläge; die
Konstruktionsarten für Rahmen, Türfutter und -verkleidung, Tür-
flügel. Sie zählt die Bauweisen der Türblätter auf: „gestemmte“,
das heißt auf Rahmen und Füllung gearbeitete Blätter, massive
Furnier- oder Verbundplatten, Latten- oder Brettertüren, einfach
oder aufgedoppelt, gedübelt, überfälzt, gespundet, Jalousietüren.
Was die Autoren aussparen, sind jene architektonischen Eingriffe,
die zwischen drinnen und draußen angemessene Verhaltens-
formen ermöglicht hatten. Dennmit den
rites de passage
3
, mit
der Emanzipation von alten Zwängen, ist auch jene Kultur des
Übergangs geschwunden, der einst die Aufmerksamkeit des Bau-
meisters galt.
Viollet-le-Duc, den die Begriffsbildung der französischen Sprache
zwang, vieles Unterschiedliche unter
porte
abhandeln zumüssen,
stellte in seinemDictionnaire unter den Stichwörtern
porche
,
portail
und
portique
noch zahlreicheMöglichkeiten dar, dem
Übergang eigene räumliche und bauliche Zonen, ja sogar eigene
Gebäude einzurichten.
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Die Zweckbestimmung dieser Vor- und
Torhallen reichte von kultischen Aufgaben bis zu jener schlichten
mitmenschlichen Rücksicht auf Ankömmlinge, die vor der noch
geschlossenen Tür auf die Begrüßungwartenmüssen. Traditionelle
Architektur kannte viele solche Angebote
Es ist ein Verdienst einiger nachmoderner Architekten, verges-
seneWahrheiten der Tür ins Gedächtnis zurückgerufen zu haben.
In Christopher Alexanders Pattern Language findet sich ein gan-
zer Katalog von Kriterien, die zu erfüllen sind, wenn sich das
Gefühl des Ankommens mitteilen soll.
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Es ist sowohl auf optische
als auch akustische, taktile oder Wärme-Empfindungen angewie-
sen. Differenzierte Bodenbeläge, Niveausprünge, Wechsel des
Gesichtsfeldes, der Übergang von Licht zuHalbschatten und
Schatten sollen den Eindruck vonDichte, Präsenz und Ankunft
erzeugen, ebensowie sie in umgekehrter Folge auf denWeg
hinaus ins Offene undÖffentliche vorbereiten. Die ehrwürdige
magisch-symbolische Tradition der Eingangs- und Ausgangsritua-
le ist damit nicht zu beleben, wohl aber der Sinn für frühere
Qualitäten, die sichmit Ein- und Ausgang verbanden.
Dies ist einAuszug aus einem Essay vonWolfgang Pehnt, erschienen in: DieRe-
gel unddieAusnahme. Essays zuBauen, Planen undÄhnlichem, Ostfildern
2011
.
Wolfgang Pehnt
geb.
1931
in Kassel, ist Architekturhistoriker und -kritiker. Mitglied der
Kunstakademien Berlin, München undDüsseldorf. Zahlreiche Auszeichnungen
und Bücher.
1
Schwelle, in: Handwörterbuch des DeutschenAberglaubens, Bd.
5
, Berlin-Leipzig
1935
, Spalte
1509
f.; Tür, in: ebd., Bd.
8
, Berlin-Leipzig
1936
, Spalte
1185
ff.
2
Adolf Reinle: Zeichensprache der Architektur, Zürich-München
1976
, S.
245
ff., besonders S.
278
.
3
DenAusdruck prägte der französischeAnthropologeArnold vanGennep
1909
, vgl. Arnold vanGennep: Übergangsriten, Frankfurt amMain
1986
.
4
Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc: Dictionnaire raisonné de l’architecture, Bd.
7
, Paris
1875
, S.
314
ff.
5
Christopher Alexander u. a.: A Pattern Language, New York
1977
; dt.: EineMuster-Sprache, Wien
1995
.
Wolfgang Pehnt
1,2,3 5,6,7,8,9,10,11,12,13,14,...28
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