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Essay
Über dieDichte der Stadt
Manfred Russo
Dichte scheint einmerkwürdig harmloser Begriff zu sein, weil er prima vista auf keine
Eigenschaften hinweist, die sich durch besondere energetische oder andere spektaku-
läre Qualitäten auszeichnen. Er ist eher abstrakt und zunächst am ehesten in seiner
physikalischen Dimension erfassbar, indem er ganz einfach das metrische Verhältnis
vonKörpern zueinander innerhalb eines bestimmtenRaumes beschreibt. Indieser sim-
plen Charakterisierung steckt allerdings bereits ein physikalisches Universum, dessen
fundamentale Auswirkungen auf die Stadt wir kurz zu kommentieren suchen. Wenn
wirDichteexakter denken, habenwir es nunmitMengen zu tun,mit Zahlen vonKörpern
proRaumeinheit undmit Impuls- undKontaktfrequenzen, die sichdaraus ergebenund
wiederum komplexeVerhaltensschematahervorrufen. Ganz allgemeingesprochen, be-
ruht höhereDichte auf geringerer Distanz zwischen denKörpern, die nun aufeinander
reagieren und unterschiedlich koagieren. Man weiß aus den Erfahrungen mit den
Städten des
19
. Jahrhunderts, die mit rapiden Bevölkerungszuwächsen konfrontiert
waren, dass die damit einhergehende Wohnungsnot unerfreuliche Phänomene wie
Ausbeutung und Konkurrenz zeitigte, aber auch neue Formen der Kooperation durch
Differenzierung hervorbrachte. In der jüngerenGeschichte der Stadt war es insbeson-
dere die Chicago School of Urban Sociology, die sich diesem Sachverhalt widmete.
Louis Wirth ist ein Klassiker, der mit seinem Aufsatz „Urbanism as aWay of Life“ drei
wesentlicheKriterien zur Analyseder Sozialbeziehungen inder Stadt hervorhob, Popu-
lationsgröße, Dichte und, daraus folgernd, Heterogenität. Physikalische Dichte ist
Voraussetzung für soziale Dichte, diese schafft eine hohe Zahl sozialer Kontakte, die
allerdings –wieWirth immer wieder betont – keineswegs solidarischen Zielen dienen.
Dichte erzeugt aber auch eine höhere Zahl an Diversität und entsprechende Aktivi-
täten, die die Komplexität der sozialen Struktur erhöhen. Die Befunde der Chicago
School führten zu einer etwas vereinfachten Interpretation, die eine Übertragung des
Dichteverhältnisses auf die Stadtplanung und den Wohnungsbau nach folgendem
Schema forcierte: Eine Erhöhung der städtebaulichen Dichte sollte Urbanität, eine
Verringerung hingegen Senkung devianten Verhaltens erzeugen.
Im Städtebau wird die bauliche Dichte zunächst durch die Relation von bebauter zu
unbebauter Fläche und derenNutzung ermittelt. Bei der Einwohnerdichte denkenwir
andieEinwohnerzahl proHektar, bei derWohndichte andieEinwohnerzahl jeBauland
und bei der Belegungsdichte an die Bewohner pro Wohnraum oder die verfügbaren
Quadratmeter. Insbesondere in diesem letzten Falle sei auf die Erhöhung der indivi-
duellenWohnfläche vomNachkriegsniveau von ca.
15
m
2
auf derzeit
35
bis
40
m
2
pro
Person hingewiesen, die sich in Wien im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte ereig-
nete. Zugleich nahm die Haushaltsgröße kontinuierlich ab. Der enorme Anstieg der
individuellenWohnfläche unddie schrumpfendenHaushalte haben aber bei jahrzehn-
telangemWachstum zu einer personellen Entdichtung der Stadt bei gleichzeitiger flä-
chenmäßiger Ausdehnung und Erweiterung geführt, der man wiederummit Verdich-
tungsmaßnahmen wie Aufzonung und Dachbodenausbau in den Innenbezirken
entgegenzuwirken versuchte. Der kontinuierliche Wohnbau hat sich abschwächend
auf die Einwohnderdichte, jedoch verstärkend auf die Dichte des verbauten Raumes
ausgewirkt und damit auch – zumindest in den Bezirken der Innenstadt – zu einem
gefühlten Rückgang der Freiflächen geführt. Auch die Quoten der einpendelnden Be-
schäftigten und in manchen Bereichen die der Touristen können für eine spürbare
hohe temporäre Dichte sorgen. Dies ändert allerdings nichts am Prozess einer konti-
nuierlichen Entdichtung der Stadt, der sich in den letzten Jahrzehnten vollzog und zu
neuen ökologischen Verwerfungen führt. Denn grundsätzlich gilt in diesem Zusam-
menhang, dass der Verbrauch von Ressourcen wie Grund und Boden zunimmt, neue
Infrastrukturen wie Wasserleitungen, Abwasserkanäle, Müllabfuhr eingerichtet wer-
den müssen und auch der Bedarf an weiteren öffentlichen Leistungen steigt. Durch
die wachsenden Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsorten wird mehr öffentlicher
Verkehr erforderlich, aber auch die private Kilometerleistung für das Auto nimmt zu.
Aus ökologischer Sicht müsste die Dichte der Stadt größer werden, aber der Umset-
zung steht nicht zuletzt eine menschliche Eigenschaft imWeg, die Schopenhauer in
seinen Schriften „Parerga und Paralipomena“ beschrieb. Darin verglich er die sozialen
Verhältnisse derMenschenuntereinandermit denender Stachelschweine, die zwar die
Nähe der anderen suchten, aber beim Zusammenrücken durch die Stacheln bald wie-
der abgestoßenwurden.
Manfred Russo
Kultursoziologe und Stadtforscher; zuletzt Gastprofessur an der Bauhaus-Universität Weimar (
2012
15
),
langjährige Lehrtätigkeit an der UniversitätWien und anderenHochschulen; Vorstandsmitglied der
ögfa
;
zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Stadt, zuletzt Projekt Stadt. Eine Geschichte der Urbanität,
2016
bei Birkhäuser.
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