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Essay – Aus Prinzip Handwerk

erschienen in
Zuschnitt 26 Handwerk, Juni 2007
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Natürlich könnte man, wenn es darum geht, Handwerk zu definieren, rein formal vorgehen. Dann wäre Handwerk immer nur das, was im Rahmen der nationalen Wirtschaftsordnung als Handwerk definiert wird. Dann gäbe es in Österreich extrem viel davon und in England keins. Doch halt, stop! Ganz so einfach ist die Welt des Handwerks nicht. Handwerk – wie könnte es auch anders sein – finden wir, als Small und/ oder Creative Industries verkleidet, gerade im uk zuhauf und – funktional – weltweit selbst in den sogenannten »Industrien«. Ganz zu schweigen von so überaus bedeutenden Wirtschaftssektoren wie die Eigenarbeit und die Nachbarschaftshilfe, denen wir – wie ich hörte – in Österreich immerhin 40 Prozent aller Neubauten verdanken. Kein Frage: Das glückliche Österreich wäre weder ganz so glücklich noch so sehr Österreich ohne sein Handwerk.

Die Moderne und den Fortschritt – so steht’s in fast allen Schulbüchern geschrieben – verdanken wir der Überwindung des Handwerks durch die Industrie. (Die Probleme auch?)

Wer über Handwerk nachdenkt, landet notgedrungen bei der »Industrie«. Was genau unterscheidet Handwerk und Industrie? Angesichts der Hightech-werkzeuge, die im Handwerk genutzt werden, hilft das meist vermutete Technologiegefälle nicht unbedingt weiter. Vielleicht liegt der Unterschied im Bereich der Standardisierung? Der Arbeitsteilung? Ist es die Art zu denken, zu fühlen und zu arbeiten? Das Selbstverständnis? Die Ausbildung? Vielleicht sollten wir den Begriff Handwerk überhaupt und der Einfachheit halber ganz abschaffen? Was würde der Welt schon fehlen, wenn es den Begriff »Handwerk« nicht mehr gäbe? Das Handwerk wohl kaum, denn es würde sich darum nicht scheren und weitermachen. Und überhaupt: Ist die Zukunft nicht sowieso irgendwie postindustriell-neohandwerklich und neohandwerklich-postindustriell? Auf jeden Fall kreativ.

Manches ist so nah, dass wir es nicht sehen können. Dazu gehört auch Europas »Handwerk«. Die Blindheit der Moderne in Bezug auf dieses Phänomen ist offensichtlich. Wer in unseren Bibliotheken nach »Gscheitem« zum Thema Handwerk sucht, wird kaum was finden: Handwerk findet nur zwischen den Stühlen statt, zwischen »Volkskunde«, »Wirtschaftsgeschichte« und »Berufsbildung«, neuerdings auch als »Ergotherapie«. Die Industriesoziologie und die Managementliteratur kennen von jeher nur die Automobilindustrie. Und die politische Linke hatte mit Handwerk noch nie was am Hut. Handwerk musste sich immer alleine durchwurschteln – meist ganz ohne Berater. Und schafft es, sogar erstaunlich gut, seit vielen tausend Jahren.

Natürlich hat das auch etwas mit der Anzahl zu tun. Man spricht in diesem Zusammenhang von dem stochastischen Prinzip; bildlich gesprochen: Handwerk wächst vermeintlich nach wie Unkraut und die Besten, die Schnellsten, die Lernfähigsten überleben. Wozu also über so viel Selbstverständliches nachdenken?

Handwerk als Utopie

Die Geistesgeschichte und die Designgeschichte kennen Handwerk nicht zuletzt als Utopie. Der »Morriszyklus«, der mit John Ruskin begann und mit William Morris seinen schönsten Illustrator fand, erschuf Bilder und Sehnsüchte, die die Herzen der Menschen bis heute bewegen. Die Arts- and Crafts-Bewegung, der Werkbund und das Bauhaus: Sie alle wollten »zurück zum Handwerk« und endeten im »Industrial Design«. Die sozialen Bewegungen der 1960er, 70er und 80er: Sie diskutierten nicht nur die Alternativen zu einer sich über alles erhebenden Megamaschine, viele lebten ihre Träume – im Handwerk.

Doch was genau ist das Utopische am Handwerk? Vielleicht, dass es so ganz real ist? Dass es uns erdet? In der Werkstatt, scheint es, wird alles möglich, weil alles wirklich ist. Nur dort nehmen wir die Welt in unsere Hände und gestalten sie eigenmächtig und autonom nach unserem Bild. Das Prinzip Handwerk ist verbunden mit dem Prinzip Werkstatt und dem Experiment. Handwerk ist nicht zuletzt auch zen, ist ein Tätigsein, das uns hilft, zu uns selber zu finden und manchmal auch weit darüber hinaus. Mit der Chance und dem Unglück zu scheitern.

Und Handwerk macht meistens Sinn in einer Welt, die immer schwerer zu durchschauen ist, in der die Abhängigkeit von Weltmarkt, Banken, Börsennotierungen, immer komplexer werdenden Technologien und ihren Risiken uns scheinbar lähmt. Handwerk war und bleibt ein Gegenentwurf zum Wahn-Sinn der Risikogesellschaft. Wo Hand angelegt wird, da bleibt es im besten Sinne menschlich. Denn während das Geld sich an den Börsen irgendwie abgehoben und – nur scheinbar – von alleine vermehrt oder auch vernichtet, liefert Handwerk uns im Hier und Jetzt reale Werte: Häuser, Möbel, Wohn- und Esskultur, dass die Waschmaschine funktioniert und die Solaranlage, aber auch das ganz Besondere, das Eigene, das »Unsrige«, das Kostbare und auch das Delikate.

Zeitlos und modern

Handwerk war und ist widerständig und eigensinnig und muss und kann sich dies leisten. Nur seinem Eigen-Sinn verdanken wir die Tatsache, dass vieles heute blüht, was nach moderner Lesart der Vergangenheit angehört. Handwerk ist das Ungleichzeitige im Gleichzeitigen. Denn ob wir wollen oder nicht: Es scheint, unsere Kultur muss auf ewige Zeiten modern bleiben – auch wenn uns das Moderne oft so bekannt vorkommt. Die Jugend jedenfalls weiß heute die Konvention wieder zu schätzen und nimmt nach dem Tanzkurs Unterricht in gutem Benehmen. Neobarock, Techno-Biedermeier und Art Nouveau erobern die Wohnzimmer, nachdem uns das karge Pathos der Sachlichkeit und die dahinter stehende Moral schon lange genug gelangweilt haben. Und überhaupt: Wer es sich leisten konnte, der trug doch schon immer feinste Handwerkskunst am Leibe, zum Zwecke der Repräsentation und als Zeichen wahrer, weil ererbter Wohnkultur, und wusste, was wirklich gut ist, weil zeitlos und eine Investition – ein durchaus nachhaltiger Aspekt der Ästhetik. Keine Frage: So reflexiv wie heute war die Moderne halt schon lange nicht mehr. Immer schön geschmeidig bleiben!

Und dann: Wir gehen sehenden Auges durch Europa und lieben es: seine Eigenarten und Vielfalt, die Schönheit, die Natur, die Kunstwerke, die Gebäude, die Lebens-Art, die Musik, die kulinarischen Genüsse, seine Sinnlichkeit, seine große Geschichte und immer wieder den Unterschied, der Unterschied macht, der den Unterschied macht. Wir schwelgen in Handwerk, wir lieben Handwerk und Kultur, denn wer Kultur liebt, liebt Handwerkskultur und weiß meist zu wenig darüber. Diese Nachkriegsgeneration ist nicht nur die erste, sondern wahrscheinlich auch die letzte, die von fast allem den Preis kennt und von kaum etwas den Wert. Wir konsumieren gerne und tun es zum Wohle des Ganzen. Frei nach dem Motto: »Verschwenden müssen, um arbeiten zu dürfen.«

Doch das wird jetzt wohl anders werden – müssen. Denn wo Transportkosten, Energie und Rohstoffe bisher kostenseitig kaum zu Buche schlugen, während die Arbeit, die liebe alte Arbeit, so schön sie war, irgendwie unbezahlbar wurde, kommt nun Bewegung in die Struktur. Damit alles so bleibt, wie es ist, muss nämlich vieles, sehr vieles, ganz anders werden.

Herkunft und Zukunft

Wir werden uns als Gesellschaft und Kultur jetzt arrangieren müssen mit der Natur und der Arbeit. Und wir stehen in Bezug auf diese Wegmarken am Wendepunkt: Wollen wir den Engpass Natur durch Kapital und Technik ersetzen? Oder gehen wir einen sanften, einen kooperativen Weg? Wollen wir den Menschen, seine Kreativität und sein Arbeitsvermögen als unser wichtigstes Kapital ansehen oder wollen wir ihn weiter durch Kapital und Automation ersetzen? Welche Werte werden wir wählen?

Nachhaltiges Wirtschaften jedenfalls braucht Handwerk, braucht dezentrale, sparsame und auch regenerative Energieversorgung, braucht Solarteure und die Region, ihre Vielfalt und Kultur und braucht das »Besser« anstelle des »Mehr«, muss Wohlstand »dematerialisieren«, braucht die »Performancegesellschaft« und Produkt- und Stoffkreisläufe anstelle von Verschleiß- und Entwertungsstrategie, braucht eine Revision des Gebrauchs, braucht wahre Werte und das Glück der Gemeinschaft und der Kreativität an Stelle der modisch geborenen Bulimie, die dem immer schneller werdenden Rein-und-Raus der Warenwelt nur den Spiegel vorhält.

Und wäre der Konzern Handwerk an der Börse notiert, so wäre den Damen und Herren Anlegern zu raten, diese Werte auf absehbare Zeit auf keinen Fall abzustoßen. Denn es sind – man höre und staune – dramatische Kursgewinne zu erwarten. Der Direktor des Schweizer Umweltbundesamtes sagt dem Bauhandwerk goldene Zeiten voraus. Die dramatischen Folgen des Klimawandels werden Umsiedlungen und Baumaßnahmen in ungeahnten Größenordnungen erforderlich machen. Diese milliardenschweren Maßnahmen, sagen die Experten, seien dennoch weit billiger, als nichts zu tun und der Sache ihren Lauf zu lassen.

Da trifft es sich doch gut, dass wir heute in Europa und in der Welt so viele arbeitslose Köpfe und Sinne haben, die nur darauf warten, dass Freiheit von Arbeit in Freiheit zur Arbeit verwandelt wird. Denn eines könnten wir in unseren europäischen Landen ganz sicher gut gebrauchen: die Kunst und das Handwerk und die Handwerkskunst in der Stadt und auf dem Lande: Wirtschaften, ganz viel nachhaltiges Wirtschaften – mit menschlichem Gesicht.

Kultur braucht (nicht nur) den Connaisseur, als seine Voraussetzung und Gegenüber – auf Augenhöhe – auch den »Homo faber«, der über das notwendige Wissen, die Erfahrung, die Kultur und das Können verfügt, den Handwerk schon immer brauchte, heute und morgen. Das Prinzip Handwerk, der ganze Mensch (Kopf, Hand und Herz) mit seinem kreativen Arbeitsvermögen ist – darauf wetten wir – im besten Sinne zukunftsfähig. Wir schließen uns dem großen John Ruskin an, der in »Unto this last«, seinem wichtigsten Traktat über die Nationalökonomie seiner Zeit, so treffend bemerkte: »Nur Leben ist Reichtum«, und wagen die These, dass es nützlich und zukunftsfähig ist, den Begriff Handwerk – bei aller Unschärfe – als wesentlichen Aspekt unserer europäischen Kultur zu bewahren. Denn – so seltsam es sich anhören mag – in exakt dieser Unschärfe liegt auch die (autopoetische) Chance.

 

Text:
Christine Ax
Handwerksforscherin, Hamburg
studierte Politische Wissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Philosophie
1991–99 Leiterin der Zukunftswerkstatt e.V. der Handwerkskammer Hamburg
Entwicklung und Koordinierung verschiedener Forschungsvorhaben rund um das Thema »Handwerk der Zukunft«
seit 1999 selbständig und Leiterin des Instituts für Produktdauer-Forschung in Hamburg
seit 2001 Mitglied am Institut für Zukunftsfähiges Wirtschaften
Vorträge, Lehraufträge und zahlreiche Publikationen
www.fhochx.de

 

Literatur

Handwerker – Künstler – Unternehmer.
Über die Bedeutung des Handwerks in der Baukultur

John Ruskin
Essays, erschienen im »Cornhill Magazine«, UK 1860
reprinted als »Unto This Last« 1862
In deutscher Sprache zu beziehen unter: info(at)kulturgut-ev.de

Erschienen in

Zuschnitt 26
Handwerk

Keine Frage: Das glückliche Österreich wäre weder ganz so glücklich noch so sehr Österreich, ohne sein Handwerk. 
Christine Ax, Handwerksforscherin, Hamburg

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Zuschnitt 26 - Handwerk