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Über das Fressen von Sägemehl

erschienen in
Zuschnitt 89 Holz und Spiele, Juni 2023

„Ich habe Sägemehl gefressen“ – was sich anderswo anhört wie eine herbe Kritik an ungenießbarem Essen, einem Kuchen etwa, ist in der Schweiz eine Metapher für eine eingesteckte Nieder­lage. Befindet man sich jedoch in einer ländlichen Gegend und ist die Person, die den Satz ausspricht, von kräftiger Statur, so ist es wörtlich zu nehmen. Sägemehl dient als Unterlage für den schweizerischen Nationalsport, das Schwingen, das Männer (schon seit ewigen Zeiten) und Frauen (in schweizerischer Tradition seit wenigen Jahrzehnten) betreiben. Während eines Schwingkampfs ist es fast unvermeidlich, ins Sägemehl zu stürzen, hineingedrückt zu werden, sich darin zu wälzen und es zu verschlucken. Im Schwingen siegt die Person, der es gelingt, die andere mit ­beiden Schulterblättern ins Sägemehl zu drücken. Die Definition bietet naturgemäß einen gewissen Spielraum und damit auch ­Anlass zu Kontroversen, zuletzt im Schlussgang – der Finalrunde – am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest 2022 in Pratteln. Das war eine große Sache, findet dieses Turnier doch nur alle drei Jahre statt. Oft, aber eben nicht immer, zeigt das Sägemehl, das an den meist verschwitzten Hemden der Sportler:innen kleben bleibt, deutlich, wessen Schultern den Boden berührt haben. 

Die Entscheidung trifft das Kampfgericht, das auch die Punkte vergibt, nach einem für Laien nur schwer verständlichen System. Das Sägemehl ist zudem zentraler Bestandteil der schönsten Geste im Schwingen, die zur Beliebtheit des Sports beiträgt, als fair und bodenständig gilt: Nach dem Kampf wischt der Sieger dem Verlierer das Sägemehl von den Schultern. Wer gewinnt, wird Schwingerkönig:in und genießt in der aristokratiefreien Schweiz lebenslange Hochachtung. In diesem Jahrhundert wurde das Schwingen zudem dermaßen populär, dass sich die ­Sache auch finanziell auszahlt. Winkte früher ein Job als Futtermittelvertreter, so sind es heute langjährige Werbeverträge mit Discountern und Autohäusern, Käsereien und Ferienregionen. Im ausschließlich von Amateur:innen betriebenen Schwingsport ist dieser materielle Aspekt nicht zu unterschätzen.

Um in die Position des Siegers zu kommen, bedarf es jahrelangen Trainings. Nicht nur auf dem Land, selbst in Großstädten wie Zürich finden sich Schwingkeller (so heißen die Trainingsräume, auch wenn sie ebenerdig begehbar sind), wo der inzwischen wieder zahlreichere Nachwuchs herangezogen wird. 

Neben den verschiedenen Schwüngen wie Schlungg, Wyberhaken oder Lätz (nicht zu verwechseln mit dem Bodenlätz) werden Kondition, Beweglichkeit und Muskulatur trainiert. Das Training findet auf Sägemehl statt. Allem kameradschaftlichen gegen­seitigen Abwischen zum Trotz bleibt davon einiges an Körper und Turnzeug hängen. Wer diesen Sport trainiert oder mit jemandem, der dies tut, den Haushalt teilt, wird sich an Sägemehlablagerungen im Haus, vor allem in der Waschküche oder im Bad, gewöhnen müssen.

Gut möglich, dass die sprichwörtliche Schweizer Gewohnheit, ständig zu putzen, darin ihren Ursprung hat. Denn Sägemehl fressen nicht einmal die Mäuse, nur die Schwinger:innen, und auch die nicht freiwillig. 


verfasst von

Stephan Pörtner

ist Schriftsteller und Übersetzer in Zürich. Er schreibt Hörspiele für das Schweizer Radio ebenso wie Kolumnen für das Straßenmagazin Surprise und arbeitet als freier Übersetzer für das Onlinemagazin Republik in Zürich. Sein erster Krimi "Köbi der Held" erschien 1998. Für diesen und zahlreiche weitere Romane wurde er bereits mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. www.stpoertner.ch

Erschienen in

Zuschnitt 89
Holz und Spiele

Velodrom, Dreifachturnhalle, Kegelbahn – in diesem Zuschnitt dreht sich alles um das Bauen für den Sport.

8,00 €

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Zuschnitt 89 - Holz und Spiele