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Essay – Holzbau und Umbaukultur

erschienen in
Zuschnitt 90 Weiterbauen in Holz, September 2023

Die Argumente für eine neue Umbaukultur sind vielfach diskutiert. Nicht nur Architekt:innen treten daher vermehrt gegen die Verschwendung grauer Energie sowie den Kultur- und Gesichtsverlust auf, die mit der gängigen Praxis von Abriss und Neubau einhergehen. Zugleich wächst das Interesse an klassischen Umnutzungsprojekten, an der Wiederverwendung von Baukomponenten und -elementen und am reversiblen Bauen. Dies bedeutet eine grundsätzliche Umorientierung, fast eine Umwertung aller Werte für eine Disziplin und eine Industrie, die eher darauf abzielen, fertige und durch lückenlose Garantien abgesicherte Produkte herzustellen. Das Konzept von Häusern als fertigen Artefakten wird tendenziell infrage gestellt. Wenn Gebäude als Grundstock oder Materialrepositorium für neue Bauten dienen, wie dies beim Umbau oder der Wiederverwendung geschieht, wird auch das neu Entstehende als etwas prinzipiell Veränderbares gedacht werden können – oder gedacht werden müssen. Flexibilität, immerhin einer der Kernbegriffe des modernen Architekturdiskurses der 1960er und 1970er Jahre, bekommt hier einen neuen Bedeutungshorizont: Neben die Offenheit für verschiedene Nutzungen treten die Notwendigkeit einer möglichen ästhetischen Umdeutung und nicht selten die Akzeptanz von Formen des Hybriden; in der Erscheinung, aber auch in der Konstruktion. Architektur wird, wie sie es über viele Jahrhunderte hinweg war, wieder zu einer Praxis des permanenten Reparierens.

Was bedeutet es für die Einschätzung von Baumaterialien, wenn jedes Bauelement auf seine intrinsische Wiederverwendbarkeit hin untersucht werden muss, noch bevor es überhaupt eingesetzt wird? Die dominanten Materialien des 20. Jahrhunderts – Beton, Stahl, Glas oder Aluminium – widersetzen sich tendenziell ihrer Anpassung und können oft nur zum Preis des Downcyclings, also der energieintensiven Verarbeitung zu weniger wertvollen Rohstoffen, wiedereingesetzt werden. Dagegen wurden die Elemente des „vorindustriellen“ Bauens immer schon wiederverwendet: Steine wurden aus ihrem Verband gelöst und neu vermauert, Holzbalken in neuen Konstruktionen wieder eingesetzt, Fensterrahmen ergänzt, verändert und anderswo eingebaut. Auch die für diese Operationen nötigen Werkzeuge – Hammer, Säge, Kelle – waren bekannt und verbreitet. Die neue Umbaukultur erfordert in vielerlei Hinsicht eine Rückbesinnung und Reaktivierung latenten Wissens über das Bauen – allerdings bedarf es auch der Bildungs- und Ausbildungskampagnen, die beides erst ermöglichen. Während beim Umbau älterer Häuser die Fortsetzung innerhalb eines bautechnischen, tektonischen und gestalterischen Denksystems möglich ist, stellen Eingriffe in Nachkriegsbauten eine deutlich komplexere Herausforderung dar. Dabei stellt sich die Systemfrage in der Neubewertung gerade dieser Gebäude. Sie machen fast überall in Europa den größten Teil des Bestands aus und benötigen daneben auch besondere energietechnische Anpassungen.

Es geht um eine auch theoretisch herausfordernde Ausgangslage: Wie können Konstruktionen, die unter der Prämisse von konstruktiver Effizienz als technische Objekte hergestellt wurden, ergänzt, verändert und zukunftsfähig gemacht werden, indem sie sich von ihrer intendierten Funktionsfixierung befreien und en passant auch von ihrer reduktionistischen konstruktiven Rationalität? Diese Fragestellung scheint sich, vor allem im städtischen Kontext, bei der Aufstockung von Alltagsbauten aus der Periode nach 1945 zu verdichten, bei denen leichte Baumethoden und eine Ökonomie der Mittel zwingend zusammenspielen müssen. So kann es kaum verwundern, dass das Material Holz, in Kombination mit anderen Materialien, bei den neuen Bekrönungen von Bestandsbauten oft die erste Wahl ist. Die Freiheit, Skelett- und Massivholzkonstruktionen zu kombinieren, kann dabei helfen, die Logik des Bestandsbaus aufzunehmen, ohne ihr sklavisch zu folgen. Holz erlaubt Formen hybrider Kohärenz, die zum eigentlichen Kern einer architektonischen Umbaukultur gehören. Wie bereits eine Vielzahl an Projekten zeigt, kann man von einer Rückkehr dieses Materials in jene Städte sprechen, in denen bis zur industriellen Revolution die Mehrheit der einfachen Häuser zumindest teilweise in Holz konstruiert war – wie dies überall im urbanisierten Nordwesten Europas der Fall war. Dass der Einsatz von Holz im 20. Jahrhundert mit Nostalgie oder traditionalistischen Tendenzen, mit Heimat und gesundem Landleben assoziiert wurde, hat den Blick darauf verstellt, dass es immer auch ein städtisches Baumaterial war, das zum Technologie- und Typologietransfer einlud und daneben oft über weite Entfernungen transportiert wurde. Die Ähnlichkeit der Dachstühle im hochmittelalterlichen England zeugt vom Ersten, der Einsatz von skandinavischem Holz in den Amsterdamer Fundamenten oder von nordamerikanischer Pitch Pine in den Fenstern der Bremer Häuser vom Zweiten. Holz ist, so zeigt die Geschichte der städtischen Anwendung ebenso wie die innovative Dynamik unserer Zeit, ein Material, das nicht der emotionalen Aufladung bedarf, um seine Vorzüge zu zeigen. Es ist, recht nüchtern betrachtet, ein fester Bestandteil fast jeder Strategie für veränderbare Konstruktionen im Umbau – und damit wahrscheinlich das Baumaterial des 21. Jahrhunderts.


verfasst von

Christoph Grafe

Architekt, Kurator und Publizist. Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität Wuppertal. Direktor des Flanders Architecture Institute in Antwerpen (2017 – 2019) und Interims-Stadtbaumeister in Antwerpen (2015). Gastprofessuren in Hasselt (Belgien) und Mailand.
Autor von „People’s Palaces. Architecture, Culture and Democracy in post-war Western Europe“ und „Umbaukultur. Für eine Architektur des Veränderns“ (mit Tim Rieniets). Redakteur von Oase Journal of Architecture und Herausgeber/Verleger der Eselsohren.

Erschienen in

Zuschnitt 90
Weiterbauen in Holz

Aufstocken, Implementieren, Drumherumbauen – der Umgang mit dem Bestand ist diesmal unser Thema.

8,00 €

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Zuschnitt 90 - Weiterbauen in Holz