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Gemeinschaftswohnprojekt in Villy bei Ollon

erschienen in
Zuschnitt 90 Weiterbauen in Holz, September 2023

Daten zum Objekt

Standort

Villy/CH

Bauherr:in

privat

Architektur

Madeleine architectes, Vevey/CH, www.mdln.org
Studio François Nantermod, Champéry/CH, www.studionantermod.ch

Statik

Ovale & Partenaires Sàrl, Châtel-Saint-Denis/CH, www.ovale-p.ch
Ingewood, Saint-Maurice/CH, www.ingewood.ch

Holzbau

Morerod Charpente SA, Aigle/CH, www.morerod.ch

Fertigstellung

2022

Typologie

Wohnbauten

Aus eins mach drei

Zur schweizerischen Gemeinde Ollon, am Rand der Waadtländer Alpen, gehören 23 Dörfer und Weiler. Einer davon ist Villy, hier leben ca. 260 Menschen. Das Wohngebiet ist trotz seiner geringen Größe zersiedelt – es gibt einen ursprünglichen Kern mit alten Bauernhäusern und Wirtschaftsgebäuden und, davon eher abgekehrt, ein im Laufe der letzten Jahre rasch gewachsenes Neubaugebiet. Ein Haus sticht aus der sonst so konformen Baustruktur hervor.

Dessen Geschichte geht so: Drei Geschwister erben das vom Großvater erbaute Haus. Alle wollen sich hier mit ihren Familien ein neues Heim schaffen. Dafür gibt es aber nicht ausreichend Platz. Der Abriss und die Aufteilung der Parzelle zur Errichtung separater Einfamilienhäuser steht im Raum. Die Suche nach einem Architekturbüro beginnt – schließlich wird das Team von Madeleine architectes und Studio François Nantermod mit der Planung beauftragt. Nach ersten Gesprächen, Skizzen und Ideen kommt ein Entwurf mit einem ganz neuen Ansatz auf den Tisch. Die partizipative Herangehensweise und intensive Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Bauherr:innen zeigt, in welch engem Verhältnis diese zueinander und zur Familiengeschichte stehen – das Haus soll also für alle drei Familien erhalten und weitergebaut werden, mit dem Bestandsbau als zentralem Element.

Das Drei-Familien-Haus

Außenmauern und Dachstuhl stehen heute noch, wie von Großvater Maurice errichtet. Im Innenraum zeugen eine Wand und die Treppe von seinem Eifer beim Bauen. Ein vollständig ausgeräumter Raum im Obergeschoss dient der gemeinschaftlichen Nutzung, ist Ort kollektiven Wohnens. Als einzige neue Elemente prägen eine weiße Stahlstütze und eine zwischen die Sparren einer Dachhälfte eingesetzte transluzente Dachhaut aus Polycarbonatplatten zur zusätzlichen Belichtung das bestehende Gebäude. Ebenerdig sind Haustechnik, Werkstatt, Waschküche und Lager zur allgemeinen Benutzung untergebracht. In einem den Bestand an drei Seiten umschließenden Baukörper sind die individuellen Wohneinheiten angeordnet. Diese sind im Grundlayout gleich, im Innenausbau jedoch auf den Bedarf jeder Familie abgestimmt.

Neu und Alt kontrastieren programmatisch und gestalterisch. Eine weiße Putzfassade „neutralisiert“ den Bestand, demgegenüber behauptet sich der Zubau durch Form und Materialität: Beton und Glas dominieren das Sockelgeschoss mit seinen zwei massiven Rundstützen und drei modularen Einheiten, von denen jede zwei aussteifende Wandscheiben hat. Es trägt den darüberliegenden auskragenden Baukörper in Holzbauweise. Vorgefertigte Wandelemente mit einem stellenweise meterhohen Träger aus Brettschichtholz bilden die Außenhaut. Das Material tritt hier bewusst rau in Erscheinung. Die Fassade besticht mit einer von Astlöchern durchsetzten, vertikalen Lattung und traditionellen Fensterläden. Auch innen ist das Holz roh belassen, das Haus hat ein klassisches Ziegeldach. Einzelne Verbindungsstücke aus Stahl sind in leuchtendem Rot in Szene gesetzt – die Farbe entspricht jener, die der Großvater seinerzeit für den Anstrich der Fensterläden wählte. Der Materialmix ist nicht zuletzt dem Wunsch der Gemeinde geschuldet, das experimentelle Familienhaus möge sich an der lokalen Bauweise orientieren. Als Vorbild wurden die traditionellen landwirtschaftlichen Nutzbauten herangezogen: bretterverschalte Holzbauten mit Giebeldach auf massiven, mineralisch gebauten Sockeln. Das Projekt ist reich an Referenzen und Analogien, vereint Alt und Neu auf besondere Weise. Abstand und Nähe, Gemeinschaft und Privatheit werden neu verhandelt. Sogar der Brückenschlag zum Haus der Großeltern ist nicht nur symbolisch: Der allseits mit einem Abstand von einem knappen Meter vom Bestand abgesetzte Neubau ist mit drei Gitterstegen mit diesem verbunden. Jede der drei Wohneinheiten hat einen eigenen Zugang zum baulichen und sozialen Herzstück des Gemeinschaftswohnprojekts, um das herum das alltägliche Leben der jungen Generation kreist. Die Familie hat sich arrangiert – das bekommt hier eine neue Bedeutung. Das Erbe wird gemeinsam weitergelebt.


verfasst von

Christina Simmel

leitende Redakteurin der Zeitschrift Zuschnitt

Erschienen in

Zuschnitt 90
Weiterbauen in Holz

Aufstocken, Implementieren, Drumherumbauen – der Umgang mit dem Bestand ist diesmal unser Thema.

8,00 €

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Zuschnitt 90 - Weiterbauen in Holz