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Essay
Offene oder geschlossene Systeme?
Renate Breuß
Zum Bild von der Urhütte gehört der Baum. Im Baum erkennt der
Mensch einMuster, aus seiner Verzweigung entwickelt er Genea-
logien und Stammbäume, konstruiert Bauweisen, baut Hütten und
Boote. Körperliche und geistige Arbeit gehören in dieser früh-
handwerklichen Zeit zusammen, ästhetische Funktionen sind von
den nützlichen nicht getrennt. Vielmehr bilden Schönheit und
Nutzen eine Einheit, eindrücklich belegt in pfeilschnellen Booten
und kühnenDachstühlen, inweit gespannten Brücken, repräsen-
tativenWohnhäusern, profanen Scheunen. Die Konstruktion
ist Bestandteil der Gestaltung, die hohe Kunst des Fügens das
Metier des Zimmerers, des obersten aller Handwerker. Wo etwas
gefügt wird, damuss es auch passen, genaues Ausführen ist die
Voraussetzung. In vormetrischer Zeit ist dieser Anspruch auffällig
oft in handwerklichen Vorgängen, im Zusammenhangmit der
Tätigkeit des Zimmerers oder Baumeisters beschrieben.
1
Nicht
nur die Zimmerleute, auch diemittelalterlichen Köche folgen den
Prämissen des ständigen Aufpassens, verbinden die einzelnen
Teile zu einem neuen Ganzenmit kontrollierter undmaßvoller
Hand. Diese Aussagen sind bemerkenswerter, als sie scheinen
mögen. ZumWortschatz der Zimmerer gehören sie noch heute.
In einemGesprächmit demUnternehmer und Zimmerer Michael
Kaufmann aus Reuthe sagt er zur Vorfertigung von Raummodu-
len aus Holz: „Die Kunst an der ganzenGeschichte ist das genaue
Zusammenfügen, dass es überall Schattenfugen gibt, dass die
Details über und neben dem Fenster stimmen, dass überall eine
schöne Fuge ist. Dasmuss passen.“ Zu bedenken ist, dass imRaum-
modulbau, wenn großeWerkstoffplatten im Einsatz sind, nicht
mehr das kunstvolle Fügen von Stäben die Tektonik bestimmt,
diesen Part übernehmen heute die großformatigen Platten. Das
wiederum öffnet neueMöglichkeiten in der Gestaltung der Räume
und Fassaden, wie dies mit neuenMaterialien und Produktions-
weisen stets der Fall ist. Für das Berufsbild des Zimmerers, seine
handwerklicheHaltung scheinen die alten Prämissen aber nach
wie vor ein Gradmesser zu sein, auch in der Zusammenarbeit mit
anderen Gewerken. Nicht zuletzt entscheidet die Qualität dieser
Kooperation über die Frage, ob der Raummodulbau nunHandwerk
oder schon Industrie sei, schreibt Robert Fabach zur Ausstellung
„Holzmodulbau“.
2
Diese handwerkliche Kooperation stärkt auch das soziale Verhal-
ten. An der Herstellung von Raummodulen sind verschiedenste
Gewerke beteiligt, es kommen viele Leute zusammen. Sie arbeiten
in kleinen Teams, jedes an einer Station, vomHolzbauer bis zum
Polsterer, bis das voll ausgestattete Raummodul am Ende der
Fertigungsstraße dasteht, fertig für dieMontage. Bestausgebil-
deteHandwerker bilden den Kopf dieser Teams, sie halten den
Trupp zusammen, sind die Schnittstellen zwischen den Gewerken
und achten auf einen gutenUmgang. Kommunikationsfähigkeit
und Gespür für rechtzeitiges Einschreiten oder Rückzug zeichnen
diese Leute neben ihrem handwerklichen, meist branchenüber-
greifenden Know-how aus. Hilfsarbeiter und Lehrlinge arbeiten
ihnen zu, lernen von ihnen. Lehrlinge durchlaufen bei größeren
Serien alle Stationen. Bleibt einer über den gesamten Verlauf
immer am selben Platz, kann die Verrichtung immer wiederkeh-
render Handgriffe eintönigwerden. ÄltereDienstnehmer, „die oft
die Nerven und die Fitness nicht mehr haben“, sehen das eher
positiv. Auch die regelmäßigen Arbeitszeiten im geschützten
Bereich einer Halle, mehr Zeit für Familie und Freunde, Sport
und Verein, das wird heute großgeschrieben. Dass er die Leute
1
Vgl. Dietrich Kurz: Akpibeia. Das Ideal der Exaktheit bei denGriechen bis Aristoteles, Göppingen
1970
, S.
131
.
2
Begleitheft zur AusstellungHolzmodulbau imWerkraum Bregenzerwald,
2016
, S.
5
.
3
Vgl. Renate Breuß: DasMaß imKochen. Messen und Proportionieren in Küche und Kunst, Innsbruck
1999
, S.
82
.
1,2,3 5,6,7,8,9,10,11,12,13,14,...28
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