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Essay
Vorfertigung, Serie, Standard
Unser Bauen ist heutemehr denn je geprägt von individueller
Formfestlegung bei zugleich standardisierter Nutzung und objekt-
bezogener Vor-Ort-Herstellung. Der Wunsch der Benutzer nach
räumlich großzügigen Bautenmit geringer Vorprägung der Nut-
zungsart würde jedoch vielmehr einen zeitgemäßen und adäquaten
Umgangmit den heutigenMöglichkeiten der Produktion benöti-
gen, nämlich der Herstellbarkeit von hochwertigen, vorgefertigten
und damit schnell montierbaren Raumstrukturen.
Unsere beliebtesten städtischenWohnformen sind nachwie vor
die gründerzeitlichen Spekulationsbauten. Für ihre Zeit waren sie
hochgradig standardisierte, nutzungsoffen konzipierte Bauten
mit großer Raumhöhe und großzügiger Erschließung. Meist nur
eingeschränkt durch Fenster- und Kaminwandweisen die in Bezug
auf ihre Verwendung nicht vorgegebenen straßenseitigen Räume
einen hohen Freiheitsgrad in Längsrichtung auf undwerden
hofseitig begleitet von den jeweils zugehörigen Funktionsräumen.
Damit wurden, auch unter Berücksichtigung aller hier nicht er-
wähnten Problematiken, im
19
. Jahrhundert unsere Städte nach-
haltig erweitert. Einer der wesentlichen Faktoren dafür, dass das
funktioniert, ist die grundsätzliche Offenheit der Strukturen im
vorvorigen Jahrhundert, insofern als eine Raumwidmung „Zimmer“
inWien vor
1930
z.B. sowohl Wohn- als auch Geschäftsräume
umfasste, ebenweil sowohl Raumhöhe als auch Raumzuschnitte
dementsprechend neutral gehaltenwaren. Vor der gleichen Frage
zur Erweiterung der Stadt stehenwir heute wieder, mit der klaren
Erkenntnis, dass diese Offenheit in keiner Weisemehr zugelassen
ist – sowohl in der Stadterweiterung des
20
. als auch des bishe-
rigen
21
. Jahrhunderts.
Das
20
. Jahrhundert fand im großmaßstäblichenWohnungsbau
auch bei der Thematik der Vorfertigung bedauerlicherweise zu
keinen nachhaltigen Lösungen. So blieben die innovativsten
Anstrengungen, das Bauen auf intelligenteWeisemithilfe einer
neuen Technologie zu standardisieren, fast ausschließlich auf
kleine oder kleinteilige Objekte beschränkt: auf Einfamilienhäu-
ser wie die Case Study Houses oder die ikonischenObjekte von
Fuller oder Prouvé. Und so sehr sich amAnfang des Jahrhunderts
die Fünf Punkte zu einer neuen Architektur von Le Corbusier auf
eine Neudefinition des architektonischenDenkens auswirkten,
für eine standardisierte, vorgefertigte Bauweise waren sie nicht
gedacht. Schlussendlich triumphierte imOstenwie imWesten
die anspruchslose vorgefertigte Betonplatte, wahlweise auchmit
Fenster- oder Türloch und einer Raumhöhe von
2,5
Metern.
In der Stapelung von vorgefertigten Bauteilen, obwohl diskredi-
tiert durch diemassenhaften Betonplattenbauten der
1950
er
Jahre und danach, die keinerlei Spielräume für Gestaltung oder
Raumanspruch ermöglichen, sollte trotzdem der Weg zu einer
neuen und brauchbaren Einfachheit zu finden sein: durch das
Übereinanderstellen vorgefertigter Holzmodule, die – räumlich
und lastabtragendmit Infrastruktur ausgestattet – autonom
funktionieren können, oder durch eine Stapelung von vorgefertig-
tenDecks, freien Flächen, die dann einen Ausbaumit einfachen,
nicht lastabtragenden und brandanspruchslosen Bauelementen
ermöglichen und somit wiederum den Einsatz vorgefertigter
Holzelemente erlauben.
Während das einfache Aufeinanderstapeln gleicher Einheiten
dicht an dicht fast zwangsläufig zuMonotonie nicht unähnlich
dem Plattenbau führenwird (schon der dabei verwendete Begriff
der „Raumzelle“ ist entlarvend), sind beim offenenDeckmit
freier Füllung Varianz und Leerstelle Programm. Durch die Ver-
wendung von Boxen als Trag- und Infrastruktur mit dazwischen
eingehängten einfachenDeckenelementen für ergänzende,
nutzungsneutrale Räume könnten solche Varianzen auf ähnliche
Art auch bei den gestapelten Schachteln erreicht werden.
Für eine spätere Um- undWeiternutzung bleiben eben die schon
erwähnten Voraussetzungenwie großzügige Raumhöhe und
einfache Veränderbarkeit des Innerenwesentliche Grundbedin-
gung.
Einer der wenigen Beiträge in der Hauptausstellung der diesjäh-
rigen Biennale, der sichmit Wohnungsbau oder Vorfertigung
beschäftigt, ist ein Projekt vonMichael Maltzan in Los Angeles.
Das Projekt zeigt exemplarischMöglichkeiten und zugleich auch
Grenzen der gestapelten Schachteln auf: Über einer frei ge-
formten, mehrgeschossigen Topografie aus Ortbeton, unter der
in Bezug zum Straßenniveau allgemeine städtische Funktionen
zu finden sind, werden die vorgefertigten hölzernen Boxen zu
nachbarschaftlich zusammengefassten Cluster-Türmchen aufge-
stapelt und schaffen es so, zu einer merk- und identifizierbaren
stadträumlichen Figur mit innenräumlichen Qualitäten auch im
Bereich der seriellen, gestapelten Raumzellen zuwerden.
Bettina Götz und RichardManahl führen zusammen das Büro
artec
Archi-
tekten inWien. Bettina Götz ist zudem Professorin für Entwerfen und Baukon-
struktion an der Universität der Künste in Berlin.
2018
erschien bei Park Books
ein Buch zur Arbeitsweise von
artec
Architekten.
Bettina Götz und RichardManahl
Wohnungen für ehemaligeObdachlose in Los Angeles:
Auf einer Betonplattform stapeln sich vorgefertigte
Raummodule aus Holz.
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