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wer zeigen wollte, was er sich leisten kann, der spornte den
Zimmermann zu dessen Freude an, noch nicht Dagewesenes zu
versuchen.
Im Skelettbau treffenwir auf vergleichbareMuster. Der vor allem
im Fachwerk überschaubare Holzanteil mag seinen Beitrag dazu
geleistet haben, dass Zeitströmungen, Moden und Lokalkolorite
auffälliger in Erscheinung traten. Die rote Farbe der Ochsenblut-
anstriche hebt sich stark von denweiß getünchten verputzten
Ausfachungen ab. Diese dekorativ wirkende farbliche Zweiteilung
gab den englischenHäusern denNamen „black andwhite houses“.
Englandwurde im ZweitenWeltkriegweit weniger zerstört als
Festlandeuropa, sodass der südliche Landesteil in nahezu jedem
Dorf mit einer beeindruckenden Palette an ornamentalenÜber-
formungen aufwartet.
Sobald konstruktive Probleme zufriedenstellend gelöst schienen,
war derWeg frei, dem anscheinend inhärenten Verzierungsbedürf-
nis nachzugehen. Verziert wurden konstruktiv wichtige Elemente
durch einfache Kerbschnitzereien und/oder farbige Fassung.
Jemehr und je größere Bauteile aus der Fassadenflucht heraus-
wuchsen, desto plastischer erschien das ganze Bauwerk. Die
irgendwann notwendig gewordene gesetzlich erzwungene Rück-
kehr zur ebenen Fassadenfläche ließ neue Ideen für Ornamentie-
rung aufkommen. Immer körperhaftere Schnitzereien und immer
buntere Einfärbungen sollten den Verlust der Auskragungen
wettmachen.
In der Gegenüberstellung von statisch oder funktionell erklärbaren
Konstruktionsmaßnahmen und dekorativer Überarbeitung ergibt
sich ein erstaunlich unklares Bild. Zimmerleute, professionelle
Schnitzer und Anstreicher haben das eineMal konstruktiv wich-
tige Elemente besonders herausgearbeitet, ein anderesMal durch
Dekor bewusst überspielt. Welcher Laie erkennt hinter einem
„Sonnenrad“ die Aussteifung von horizontalem und vertikalem
Konstruktionselement durch Fußbänder? Dabei ist es irrelevant,
ob die applizierten Texte oder Plastiken symbolischen oder deko-
rativenHintergrund haben. Alle werden sie ornamental gelesen.
In Südengland undWestfrankreichwurden vertikale Streben sehr
eng nebeneinandergesetzt, vermeintlich ohne Diagonalstreben.
Tatsächlich sind die aussteifenden Streben unsichtbar hinter dem
Putzmantel verborgen. Putz half dem Zimmermann, Details vor-
zutäuschen, deren Realisierung zu unökonomisch gewesenwäre.
So lässt sich die einleitende Fragemit einem Zitat vonDai De aus
der westlichenHan-Dynastie beantworten: „Wissen dieMenschen,
dass alles eine innere Schönheit besitzenmuss, die aus seiner
Substanz kommt, wenn es in seiner äußeren Erscheinung, in seiner
Farbe und seinem Klang schön seinwill?“
Klaus Zwerger
habilitierte sich
2012
zum historischenHolzbau. Er hat fast alle Staaten Europas
sowie China und Japan zu Forschungszwecken besucht.
2015
hatte er eineGast-
professur an der Hosei University in Tokio inne. Er ist Autor mehrerer Bücher.
Kerbschnitzerei in Braunschweig⁄ D
Straßburg⁄ FR
Potterne⁄ UK
Michelstadt⁄ D
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Das Ornament
die Fantasie ohne Willkür, das Gewebte ohne Weberei, die Dynamik ohne Bewegung, das Leben ohne Atmung, die Form ohne Funktion. Oder genauer, mit der Funktion der Form.
Ornament ist dann ontologisch Plural (wie das Holz, das eher die Hölzer sind). Ornament ist Optimismus in Hochform: weniger und mehr.
Architekt
in
Zürich
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