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Essay
Zur Logik des Ornaments
Das Ornament gilt als das am schwierigsten zu fassende Element der
Architektur, es scheint sich einer klarenDefinition zu entziehen. Dement-
sprechendwerden die Debatten darüber hitzig und emotional geführt.
Man denke nur an das Postulat, dass dieModernemutwillig das Ornament
abgeschafft oder gar liquidiert habe. Aber wirdman damit demOrnament
gerecht undwichtiger noch: Wirdman damit der Architektur gerecht?
Doppelte Polung
DieOrnamente sind aber weniger rätselhaft, als sie scheinen. ImGegenteil,
die Debatten darüber sind Indikatoren dafür, dass sich in der Konzeption
der Architektur etwas verändert und etwas Neues entsteht. Mit neuen Kon-
struktionsformen, Verbundstoffen und der Digitalisierung aller Bereiche der
Architektur, gerade auch imHolzbau, steht auch heute, wie zu Beginn
der Moderne, die Architektur wieder an einemWendepunkt. Wie vormals
kristallisiert sich amOrnament die neue Konzeption der Architektur heraus.
Man darf sich nicht wundern, aber mehr denn je besitzt das Ornament
eine Zukunftsorientierung. Das zeigt sich inWalter Gropius’ Ausruf:
„Vorwärts zur Tradition! Das Ornament ist tot! Lang lebe das Ornament!“
1
Das Ornament lässt sich, trotz seiner vielfältigen Erscheinungsformen,
durchaus näher bestimmen. Man kann dazu auf Gottfried Semper Bezug
nehmen. In seiner Schrift „Der Stil in den technischen und tektonischen
Künsten, oder praktische Ästhetik“ (
1863
) versuchte Semper, die theore-
tischen Grundlagen der Architektur zu beschreiben. Und es ist das Orna-
ment, auf das alles hinausläuft und das im Zentrum des Verständnisses
der Architektur steht.
Die Ornamente haben, so Semper, ihren Ausgangspunkt in den Prozessen
desMachens und des Gemachtseins der Dinge. Sie können von nichts
losgelöst werden. Vom stilistischen Standpunkt aus betrachtet trete das
Ornament „uns nicht als etwas Absolutes, sondern als ein Resultat entge-
gen“
2
. SeinenUrsprung hat es einerseits in denmateriellen und konstruk-
tiven Verfahren, andererseits in der kulturell konnotierten Bearbeitung
auf Seiten des Handwerkers. So kannman von der doppelten Polung des
Ornaments sprechen, in denWorten von Semper einerseits von der struk-
tiv-technischen Seite, andererseits von der struktiv-symbolischen.
Logik der Konstruktion
Für Semper zeigt sich das an der Verknüpfung von Stoffen und Fellen zu
größeren Flächen. Er sprach von der „struktiven Bedeutung der Naht“
3
und von der Naht als Ausgangspunkt für Ornamente. „Die Naht ist wohl
einNothbehelf, der erfundenward, um Stücke homogener Art, und zwar
Flächen, zu einemGanzen zu verbinden.“
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Als Beispiel nannte er das Zu-
sammennähen einzelner Felle zu größeren Stücken, wobei ihm als ethno-
logisches Anschauungsobjekt die Indianer dienten. Irgendwann genügte
ihnen die Naht als konstruktives und funktionales Element nicht mehr. Sie
fingen an, dieNähtemit komplizierteren Stichen zu überhöhen. Aus den
einfachenNähtenwurden reiche Verzierungen, aus denKreuzstichenMuster
und sichwiederholendeOrnamente. Ornamente sind also „bedungen durch
die Art der Bearbeitung der Stoffe“
5
. Durch sie findet die Überführung
der konstruktiv-technischen Verfahren in kulturell bedeutungsvolleMuster
und Zeichen statt, die von Region zu Region, von Kultur zu Kultur variieren
und ostfriesisch, oberbayerisch, slowakisch oder sizilianisch sind.
Ähnliches hat Vitruv in seinem ersten Theorietraktat der Architektur, in
„De architectura libri decem“, schon beschrieben. Es entsteht das archi-
tektonische Ornament aus demÜbergang des antiken Tempels von der
Holz- zur Steinkonstruktion. Im Tempel in Stein verschwanden die Holz-
konstruktionen vonDecken undDachstuhl hinter der steinernen Fassade.
Damit stand die Architektur inGefahr, eine abstrakte Figur zuwerden,
weil sich das Gebäude der Lesbarkeit und dem Verständnis seiner kon-
struktiven und konzeptuellen Logik entzog, weil es nicht mehr mitteilte,
wie es gemacht undwie es konzipiert war. Ornamentemachen diemateriell-
konstruktive wie auch die konzeptuell-kulturelle Logik sichtbar.
Deswegen hätten die Baumeister, so Vitruv, die Ornamente erfunden, zum
Beispiel das Triglyphen- undMetopenfries. Die Triglyphen sind stilisierte
Balkenköpfe, sie zeigen die Position der Deckenbalken dahinter an, die
Metopen den Raum dazwischen. Triglyphe undMetope haben selbst keine
konstruktive Funktion, sie sind indexikalische Zeichen für etwas, was ohne
sie unsichtbar bliebe. Über ihre konstruktive Verweisfunktion hinaus sind
sie aber vomHandwerker oder Künstler beliebig bearbeitbar. Es kann die
Triglyphemit Bildmotiven und dieMetopemit Reliefs oder das Säulenka-
pitell mit Pflanzenmotiven oder kunstvollen Fabelwesen verschönert werden,
je nach Zeit, Region, Kultur undMeisterschaft des Handwerkers.
Logik der Kultur
Ornamente verbinden demnach zwei Erzählungen: Die Erzählung über die
Konstruktionmit der Erzählung über die Kultur. Sie sind quasi das Inter-
face, die Schnittstelle. Was bedeutet das aber für das Zeitalter der analogen
und digitalenMaschinenproduktion, der Fertigteile, des
3
D-Printing und
der Verbundstoffe, wo vieles vorgerechnet und vorgefertigt ist und auf
der Baustelle nur nochmontiert wird, wo es keine Schrauben, Dübel oder
Balkenschuhemehr gibt und vieles geklebt ist?Wie zeigt sich dann die
Logik der Holzverbindungen, wie finden sie ihre kulturelle, symbolische
Aneignung? Die zentrale Frage ist, wie denn die kulturelle Aneignung des
rein Technisch-Konstruktiven stattfinden kann, wenn der Handwerker
nicht mehr Hand anlegt und keine Spuren der Bearbeitung sichtbar sind.
Brauchenwir überhaupt noch die Ornamente? Sindwir wieder an dem
Punkt – vielleicht Tiefpunkt – angelangt, an dem das Ornament einmal
mehr abgeschafft werden kann?
Oder könnte es sein, dass mit den analogenwie auch digitalenMaschinen-
verfahren der ornamentale Prozess, unmerklich erst, sich verlagert hat von
der Baustelle an den Anfang des Prozesses der Architektur und damit ins
Entwerfen? Vielleicht kannman sogar von einer Rückkehr des Ornaments
in den variierenden, computergeneriertenMustern sprechen, wie zumBei-
spiel in AchimMenges’ „HoneycombMorphologies“, deren Gemachtsein
trotz aller Algorithmen in den Verbindungen der einzelnen Zellen sichtbar
wird. Es stellt sich an diesem Beispiel dennoch die Frage, wo sich die
kulturelle Konnotierung, das symbolisch Spezifische des Entwurfs und der
Architektur zeigt.
In diesem Zusammenhang stellen sich grundlegende Fragen, den kulturel-
len Status der Architektur betreffend. Die HoneycombMorphologies sind
erst einmal Unikate und Prototypen, ihre Formensprache ist noch nicht
in die allgemeine Sprache der Kultur übergegangen. Wo die kulturelle
Konnotierung noch fehlt, sind sie in diesem frühen Stadiummehr Muster
als Ornament. Dazumuss festgestellt werden, dass die Ornamente in ihrem
klassischen Gebrauch immer Figuren sind, die Teil des kulturellen Bewusst-
seins sind in je individueller Färbung durch die Bearbeitung des Hand-
werkers. Die neuen Formen heutemüssen also einen Prozess durchmachen,
damit sie ein neuer, bedeutungsvoller Teil der symbolischen Sprache der
Architektur werden und den Status eines neuenOrnaments erwerben. Will
man Beispiele nennen für Figuren, die aus einer technischen Form zu einer
kulturell konnotierten Figur wurden, so lassen sich dafür die „Nierenform“
der
1950
er Jahre anführen und die typischen Tapetenmuster der
1970
er
Jahre oder die Kombination von freigelegtemMauerwerk und verputzter
Wand für die Postmoderne der
1980
er Jahre. Auchwenn in den drei Bei-
spielen der Handwerker nicht mehr maßgeblich an der Herstellung betei-
ligt ist, so handelt es sich doch umMuster, die durch Gebrauchmit einer
zeitspezifischen Konnotierung kulturell zu Ornamenten aufgeladen sind.
1
Walter Gropius: „Für eine lebendigeArchitektur“, in: Hartmut Probst, Christian Schädlich:
Walter Gropius. Ausgewählte Schriften, Bd.
3
, Berlin
1983
, S.
169
.
2
Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischenKünsten, oder Praktische
Ästhetik, Bd.
1
: Die Textile Kunst, München
1878
, S.
107
.
3
Ebd., S.
77
.;
4
Ebd., S.
78
.;
5
Ebd., S.
177
.
JörgH. Gleiter ist seit
2012
Professor für Architekturtheorie und geschäftsführender
Direktor des Instituts für Architektur der TechnischenUniversität Berlin. Er ist Heraus-
geber der Reihe ArchitekturDenken (Transcript Verlag Bielefeld) undMitherausgeber
der Internationalen Internet-Zeitschrift zur Theorie der Architektur Wolkenkuckucksheim.
JörgH. Gleiter
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