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Stabförmiges Faltwerk
Tennishallen-Zwillinge
Game, Set andMatch. Das ist seit gut einem Jahr in den beiden
Tennis- und Eventhallen auf dem Bürgenstock wieder möglich.
Seit damals ist das Resort auf dem Bergrücken im Schweizer
KantonNidwalden – von der Stadt Luzern eindrücklich sichtbar –
wieder in Betrieb. Rüssli Architekten aus Luzern erhielten den
Auftrag und realisierten zwischen
2011
und
2017
neben zwei
Hotelbauten auch die beeindruckenden Tennishallen.
Eingebettet in denHang, anstelle der Vorgängerhallen über
einem bewaldeten Bereich platziert, flankieren zwei gedeckte
Innenplätze symmetrisch einenmittigen Außenplatz, der im
Winter ein Eisfeld ist. Die beiden spiegelgleichenHallenwirken
von außen fast unprätentiös mit einer zurückhaltendenDach­
eindeckung aus grauenAluminiumpaneelen. Die polygonale
Dachaufsicht mit verschiedenen Dachneigungen von
18
,
32
oder
45
Grad soll in der Flaniermeile rund um dieHotelanlage
an Bergkristalle erinnern.
Ursprünglichwar ein Stahlbaumit Glaseindeckung vorgesehen.
Wegen der großen Temperaturschwankungen auf
874
Metern
über demMeer und den damit einhergehendenMaterialdeh-
nungen rieten die Bauingenieure aber zu einer Variante aus Holz.
Das Tragsystem ergab sich aus räumlichen, funktionalen und
statischenÜberlegungen. So strebteman einen sowohl festlichen
als auch puristischen Raum an, der für Veranstaltungen und
Sportaustragungen gleichermaßen gut funktioniert. Die Dach-
form solltemit einer maximalenHöhe in Dachmitte von
11,4
Metern der Ballwurflinie gerecht werden und dennoch keine
hallenhafteWirkung bekommen. Zudem reduziert sichmit einer
räumlichen statt einer linearen Tragwirkung die statische Höhe.
Das Rautensystem lässt sich in Kategorien einteilen: die Primär-
träger, die an denDachfalten als Gratträger angeordnet sind;
die Sekundärträger, die als Einfeld- und Biegeträger zwischen
den Primärträgern spannen; die Füllhölzer, die zusammenmit
den Sekundärträgern das Rautensystem bilden; die Schwellen,
die das Tragwerk zusammenschließen; dieMehrschichtplatten,
die die Dachscheiben bilden und die Rauten versteifen. Die
einwirkenden Kräfte werden von der Dachplatte über die Sekun-
därträger in die Primärträger geleitet. Diese stützen sich gegen-
seitig in einer Rahmenwirkung und sind somit nicht nur auf
Biegung beansprucht, sondern erfahren auch hohe Druckkräfte.
AmAuflager wirkt zudem seitlicher Schub. Dieser wird von
einem Stahlprofil mit einer höherfesten Stahlqualität von
S355
,
welches amDachauflager als Zugringwirkt, aufgefangen. Die
Tragelemente bestehen aus Brettschichtholz verschiedener
Festigkeitsklassen. Diemeisten haben die Basisfestigkeit GL
24
.
Damit hochbeanspruchte Bauteile aber ebenso groß dimensio-
niert werden konntenwie die weniger beanspruchten, wurden sie
in hochwertigem Brettschichtholz der Festigkeitsklassen GL
28
und GL
32
gefertigt. Über das gesamte Systemmit Rauten und
Füllhölzern, die einenQuerschnitt von
160
mal
520
mm aufwei-
sen, wurde eine
60
mm dünneMehrschichtplatte verlegt undmit
einer Verschraubung befestigt.
An vielen Stellen treffenmehrere Träger aneinander. Auf halber
Höhe des Dachs sind es sogar fünf Primärträger in einemKnoten.
Hier sind die Kräfte groß. Sie sollten aus gestalterischer und sta-
tischer Sicht dennochmöglichst einfachmiteinander verbunden
werden; Stahlteile solltenmöglichst unsichtbar sein. Bei klassi­
schen Verbindungenwürden allerdings Schlupf- undMontage­
toleranzen zu großenDeformationen an der Schwelle führen.
Mit einem spezifisch für dieses Projekt entwickelten Vergussstoß
ließen sich die Träger bündig, präzis und kraftschließend verbin-
den. Dabei wurden Gewindestangenmit Epoxidharz in das Brett-
schichtholz eingeklebt. Sobald alle Knoten ausgehärtet und die
vier Gerüsttürme entfernt waren, war der direkte und schlupffreie
Kräftefluss gewährleistet, wobei die Knoten nebenDruck auch
Querkraft undMomente um die starke Trägerachse aufnehmen.
Die Dachkonstruktion lagert auf allen vier Seiten auf
4,2
Meter
hohen Brettschichtholzstützen. Die beiden baugleichenHallen
sind dabei auf drei Seiten hangseitig vonmit Muschelkalkplatten
verkleideten Betonwänden eingefasst. Auch sie tragenmit und
stabilisieren das System. Die vierte Seite ist eine Glasfront. Die
ungleiche Lagerbedingung – an drei Seiten „starre“ Betonwände
und an der Südseite die vergleichsweise „nachgiebige“ Glasfas­
sade – führt auch bei symmetrischen Belastungen zu asymmetri-
schenDachverformungen. Um diese Verformungen im Endzu-
stand zu reduzieren, ließen die Bauingenieure das Tragwerk leicht
überhöhtmontieren und die glasfassadenseitigen Stützenwährend
der Bauphase leicht schräg nach innen einbauen. BeimAbsenken
der Montagetürme drehten sich diese ins Lot.
Trotz der großzügigen Spannweiten über der Hallenfläche von
22
mal
37
Meternwirkt die Tragkonstruktion aus Fichten-
und Tannenholz schlank und fast zierlich – nicht direkt durch
die Materialisierung, sondern vor allem durch die Formgebung.
ClementineHegner-van Rooden
ist diplomierte Bauingenieurin (
eth
), freie Publizistin und Fachjournalistin.
ClementineHegner-van Rooden
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