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Essay
Holz in vielerlei Gestalt
Als sich das Ingenieurwesen ab der Mitte des
18
. Jahrhunderts
als feste technische Disziplin allmählich etablierte, war das Holz
der Baustoff schlechthin. Das lag imWesentlichen an seiner
Verfügbarkeit, aber auch am umfangreichenWissen über seine
Einsatzmöglichkeiten und Grenzen. Die wechselvolle Geschichte
des modernenHolzes – seine Krisen im Schatten anderer Bau-
stoffe und seine Konjunkturen bei derenMangel oder Unzuläng-
lichkeiten – hängt eng zusammenmit der sich verändernden
Rolle der Technik im Bauen. Sie zielt auf das Zusammenspiel
zwischen einer sehr alten Konstruktionsweisemit einer zuneh-
mend zentralenWissenschaft und einer immer leistungsfähigeren
und einflussreicheren Industrie.
Den Ingenieuren ging es bei der Errichtung einer rationalen
Bauwissenschaft um die Abnabelung vom erfahrungsbasierten
Konstruieren, das sich an erprobten Typologien orientierte. Auf
der Grundlage von nachvollziehbaren FaktorenwieMaterialfes­
tigkeit, Lasten oder der geometrischen Konfiguration der Teile
sollte sich das entstandene Konstrukt schnell und sicher prüfen
lassen, gewissermaßen als eine durch dieWissenschaft voraus­
genommene Erfahrung. Das Holz spielte dafür zunächst keine
grundlegende Rolle; es war wegen seiner Bedeutung alsMaterial-
standard aber einwichtiger Bezugspunkt. Noch heute sprechen
Ingenieure von der gezogenen oder neutralen Faser bei der
Berechnung des Biegebalkens. Als der Ingenieur Karl Culmann
1851
inDeutschland nach seiner Nordamerikareise über die dort
vorgefundenenweitgespanntenHolzbrücken berichtete, ver­
breiteten sich sowohl die dort verwendeten pragmatischen und
effektiven Konstruktionsweisen als auch die von ihm hierbei
entwickelte Fachwerktheorie. Jene verknüpft die Stäbe nur an
ihren Enden und schaltet die für das Holz so typischenÜberlage-
rungen von Stäben aus, schafft also eine einfachere Ordnung,
basierend auf Stab und Knoten. So entstand einmechanisches
Modell des Fachwerks neben dem des traditionellen, das aber die
neue Basis in der Bautechnik wurde.
Dieser Zusammenfluss unterschiedlicher Wissens- und Praxisfor­
men von alter Welt und neuer kann im Rückblick gar nicht über-
schätzt werden. Denn zum einenwurdemit den amerikanischen,
radikal einfachen und standardisierten Tragwerkstypen und
Stabquerschnitten eine stark industrielle Bauweise in den Vorder-
grund gerückt, zum anderenwurde im theoretischen Ansatz der
neuen Berechnungsweise das abstrakte Formenschema des ge-
reihtenDreiecks der Holzbautradition vorangestellt. Die Theorie
erklärte so nicht mehr das, was existierte; sie diktierte das, was
existieren kann. In der Konstruktionspraxis der zweitenHälfte
des
19
. Jahrhunderts wurde das entwickelte Fachwerkgebilde
anschließend in einMaterial übersetzt. Zu jener Zeit war das stoff­
lose Tragwerksschema aber keine Einschränkung; es war eine
Befreiung von zweifelhaften, uneindeutigen Konstruktionen.
In diesem Paradigmenwechsel begegneten sich die Bestrebungen
vonWissenschaft und Industrie. Das Ingenieurwesenmachte die
Holzkonstruktion verlässlicher, berechenbarer und damit vor
allem effizienter und leichter, und das ermöglichte demHolzbau
Zugang zu Bauaufgabenmit großen Spannweiten zum Beispiel
im Industrie- und Brückenbau. Der Holzbau erhielt eine neue Be-
deutung, indem er die traditionelleHandwerklichkeit der Holzform
und -verbindungmit denMitteln industrieller Fertigung ablöste
durch eine Fokussierung auf die Form der Gesamtkonstruktion.
Die ingenieurmäßigeHandwerklichkeit fokussierte fortan auf die
Anordnung der Elemente imRaum und deren solide Verbindung.
Anfang des
20
. Jahrhunderts galt diemoderne Holzkonstruktion
als dem Stahl ebenbürtig, war imWesen von ihm kaum noch zu
unterscheiden.
Nachdem sich das Holz mithilfe der übergeordneten Tragwerks-
theorie neben den anderen industriellen Baustoffen gleichwertig
anbieten konnte, gelang demmodernenHolzbau im
20
. Jahrhun-
dert eine enorme technischeWeiterentwicklung zum Ingenieurholz-
bau. Die technische Konstruktion zielte nun auf die Beschaffen-
heit desMaterials selbst. DessenUmorganisation begann bei Otto
Hetzer zu Beginn des
20
. Jahrhunderts zunächst mit horizontalen
Lamellen, die individuell geformt und in präziser Neuanordnung
zu beliebigenQuerschnitten zusammengefügt wurden. Die Be-
standteile wurden kleiner undmit besseren Klebstoffen gefügt.
In verschiedensten Formen kamen nun dieHolzwerkstoffe zum
Einsatz, die vielfältige, industriell präzise gefertigte und theore-
tisch besser ermittelteAnwendungen erlaubten. Diese Vermittlung
von Theorie und Baupraxis bringt typischerweise der Ingenieur in
jedes Projekt, skizziert demArchitekten Potenziale und Probleme
und verbürgt sich nicht nur für die sichere, sondern idealerweise
auch stimmigeKonstruktion–und zwar unabhängig vomKonstruk-
tionsmaterial.
Warummuss also die Rede vom Ingenieurholzbau sein, wenn das
Holz doch seinen festen Platz immodernen Bauen gefunden hat?
Weil dasHolz heute – immer noch oder wieder – eine so besondere
Rolle spielt, indem es sich außerordentlich dynamisch verändert.
Die Produktion zeitgenössischer Holzarchitektur ist schon in
der Konzeptentwicklung auf eine umfangreiche Holzkompetenz
angewiesen, die sichmit den Formmöglichkeiten, Konstruktions-
systemen und neuen hybridenMaterialien auskennt, ja sogar
bauphysikalische und brandschutztechnische Aspekte einbeziehen
kann, welche gerade imHolzbau eine so große Rolle spielen.
Davon zeugen der große Erfolg des Schweizer Modells des Holz-
bauingenieurs und seine bedeutende Rolle im frühen Entwurfs-
prozess. In der jetzigen Phase der wachsendenGrammatik des
Holzbaus mit seinem zunehmenden technischen und architek­
tonischen Potenzial ist der Ingenieurholzbau wichtiger denn je;
er ist nicht zuletzt Teil einer neuen Baukultur.
Mario Rinke
ist Bauingenieur undDozent an der Hochschule Luzern undOberassistent
bei Prof. Schwartz amDepartement Architektur der
eth
Zürich. Zahlreiche
Veröffentlichungen im Spannungsfeld vonArchitektur, Konstruktion und Bau-
geschichte.
Mario Rinke
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