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Essay
DieDecke ist ein von unten gesehener Boden. Und umgekehrt.
Leon Battista Alberti schrieb in seinem „De re aedificatoria“:
„Die Decke war ihrer Natur nach […] von der ganzen Baukunst für
dieMenschen das erste jener Stücke, die für ein ruhiges Dasein
notwendigwaren, so zwar, dass der Decke halber nicht allein die
Wand undwasmit denWänden sich aufbaut undmitfolgt, sondern
auch alles, was unter der Erde sich befindet, unleugbar erfunden
wurde.“ Die Decke ist etwas Konkretes, das die bewohnten und
belebten Innenräume schützt und erhält. Funktionell gesehen
isoliert die Decke klimatisch und akustisch nach oben und unten
hin die verschiedenen Räume eines Gebäudes, ermöglicht den
Übergang der Installationen. Räumlich gesehen definiert sie die
Proportion und den vertikalen Abschluss jedes gebauten Innen-
raumes. ImAusdruck ermöglicht sie die Realisierung einer vielfäl-
tigen Beziehung zwischen oben und unten: Sie ist Erklärung und
Metapher der Lebensart auf der Erde, unter demHimmel.
Die Decke ist grundlegend für die Bestimmung des Charakters
der Innenräume einer Architektur. Schon Vitruv hat empfohlen:
„Da sich dieWände inmannigfaltiger Art aneinanderreihen,
muss es vielerlei Deckenformen geben.“ Die Decke kann farbig
oder neutral sein, einfach in ihrer Geometrie oder zerstückelt in
tausend Elemente und Formen. Eine Reihe von Balken regt zur
Versetzung darunter an, eine gewölbte Decke schafft zentrali-
sierten Raum, eine flache Decke wirkt gleichmütig, distanziert
und neutral. Die Zusammenarbeit vonWand undDecke bestimmt
von jeher eine räumlich und expressiv untrennbare Einheit: von
der malerischen Romanik bis zur vertikalenGotik, von der Klarheit
der Renaissance bis zum emotionalen Barock, alle architektoni-
schen Sprachen und Strömungenwären nicht möglich ohne die
intellektuelle Gleichung zwischenDecke undHimmel und der
darauf folgenden andauernden räumlichen und symbolischen
Neuinterpretation.
Die Decke, oft sichtbar in ihrer ganzenDimension, nicht durch
Möbel versperrt und freier als andere Flächen, weil nicht an den
physischen Kontakt mit jenen gebunden, die unterhalb gehen (nur
Spider-Man kann sich auf der Decke bewegen), ist deshalb für Ex-
perimente und akzentuierte Ausdrucksformen besser geschaffen.
Die Decke schützt nicht nur das, was sie zudeckt, sondern sie
vervollständigt auch die formgebende Qualität eines Raumes.
San Galgano in der Toskana oder die Kirche SantaMaria dello
Spasimo in Palermo veranschaulichen es: Ein Innenraum ohne
Decke, so faszinierend dieser auch scheinenmag, wird immer als
Ruine empfunden. Dach undDecke sind tatsächlich starkmitei-
nander verbunden, oft entspricht die letzte Decke der Unterkante
des darüber befindlichenDachs. Trotzdem gibt es einenUnter-
schied zwischen diesen beiden architektonischen Elementen. Er-
steres ist vor allem von außen sichtbar und dient nicht nur zum
Schutz, sondern auch, um sich von der Umgebung abzuheben,
indem es die Silhouette des Ortes bestimmt. Zweiteres ist ein
Innendach, seine Form bestimmt den Charakter des Raumes, den
es abschließt. Die Decke qualifiziert unser tägliches Leben und
definiert den bewohnten Raum. Sie wird durchGeometrie, Farben
und Schatten charakterisiert. Eine Decke kann erhaben, groß,
pompös sein, Wärme oder Feierlichkeit, Fröhlichkeit oder geome-
trische Qualität ausstrahlen, je nach ihrer gestalterischen und
materiellen Beschaffenheit.
Auch aus technologischer Sicht ist die Decke entscheidend für
die Qualität und den Charakter einer Architektur. Welche Raum-
weite kannman zudecken?Mit welcher Stärke?WelcheMaterialien
stehen für die Realisierung zur Verfügung? Und im Falle einer
Holzdecke: Welche sind ihre besonderen Eigenschaften? Das Holz
als Naturelement ist materialisiertes und dauerhaftes Leben. Holz
schafft immer einen dichten Raum undwarme Umgebung. Alle
Geschichten über die urtümliche Holzhütte beziehen sich auf den
Wald als Ursprung der Architektur und die Verzweigung der Äste
als natürlicher Schutz. Holz ist deshalb vonNatur aus zur Abde-
ckung gebauter Räume prädestiniert, und für verschiedene Situa-
tionen gibt es unterschiedliche Lösungen: Eine Deckemit Holz-
gebälk hat Rhythmus, regelt, zeigt Baulogik; Kassettendecken
bietenDekor und Funktionalität, erlauben den Einsatz von kurzem
Holz, sodass das bessereHolz für das Dach übrig bleibt; die Flach-
decke aus Holz ist programmatisch eine künstliche Aktion, alter-
nativ zur Mimese der Äste eines Baumes, funktioniert aber gut.
Die Decke ist ein behagliches Element, immer positiv, immer zu-
gunsten von etwas oder jemandem. Diese konstruktive und räum-
liche Rolle der Decke ist nur gut sichtbar, wennman in Abschnit-
ten denkt. Nur so erscheint ihre ambivalente Natur in voller
Größe: Eine Decke ist der direkte Kontrapunkt zum Boden, sein
Alter Ego. Siematerialisiert gleichzeitig einen Schutz von oben
und ermöglicht diesemOben zu sein, indem sie es stützt. Eine
Decke ist ein intellektuellesWerk, sie erfordert Abstraktionsfä-
higkeit und Konstruktionswillen.
Die Decke ist freier als andere Flächen, sie ist –
da nicht vonMöbeln verstellt – in ihrer ganzen
Dimension sichtbar.
Die Decke ist grundlegend für die Bestimmung
des Charakters der Innenräume.
Alberto Alessi
AlbertoAlessi
Architekt, freier Kurator und Kritiker, lebt in Zürich
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