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Ganzheit aus Alt und Neu
Haus Truog Gugalun

Architekt Peter Zumthor spricht über einen Zubau an einen kleinen Hof in Versam, Graubünden, bei dem sich Alt und Neu unter einem gemeinsamen Dach zu einer harmonischen Ganzheit verbinden.

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»Strickbauten« heißen in Graubünden die aus massiven Holzbalken gefügten Blockhausbauten. An-stricken oder Weiter-stricken war Thema des Entwurfs eines Zubaus an einen kleinen Hof, bei dem sich Alt und Neu unter einem gemeinsamen Dach zu einer harmonischen Ganzheit verbinden.

»Der kleine Hof, schmale Existenzgrundlage einer Bergbauernfamilie über Generationen (der Stubenteil datiert von 1760), war für die Erben so zu erneuern, dass er zeitgemäß bewohnt werden kann, ohne seinen Zauber zu verlieren - den Zauber seiner abgeschiedenen Lage am Nordhang (gugalun = den Mond anschauen), die Natürlichkeit des Fußpfades, der als einzige Erschließung zum Haus hinabführt, die Spuren des Alters: des schmalbrüstigen, auf schlechtem Fundament schief gewordenen Stubenteils mit seinen zahlreichen Flickstellen im Holzwerk, die erkennen lassen, wie klein die Fenster und wie niedrig die Decken und Türen ursprünglich waren. Der Entwurf respektiert diese Dinge. Unter einem gemeinsamen neuen Dach wurde dem Bestehenden nur das hinzugefügt, was ihm aus heutiger Sicht fehlte: eine moderne Küche, Bad und Toilette, zwei Kammern mit größeren Fenstern, eine zusätzliche Holzfeuerung. Dabei haben wir versucht, darauf zu achten, dass eine neue Ganzheit entsteht, in der Alt und Neu aufgehen. In zehn Jahren, wenn die Sonne die neuen Holzbalken geschwärzt hat, wird man sehen, wie dieses Ziel erreicht wurde.«

»So besteht für mich die Suche nach dem neuen Objekt, das ich entwerfen und bauen will, zu einem großen Teil darin, darüber nachzudenken, wie wir die vielen Orte unseres so unterschiedlichen Wohnens in der Welt wirklich erfahren - im Wald, am Fluss, auf der Brücke, auf dem Platz, im Haus, im Zimmer, in deinem Zimmer, im Sommer, am Morgen, in der Dämmerung, im Regen. Ich höre das Geräusch der Autos, die vorbeifahren, die Stimmen der Vögel und die Schritte der Passanten. Ich sehe das angerostete Metall der Tür, das Blau der Hänge im Hintergrund, das Flirren der Luft über dem Asphalt. Ich spüre die Wärme, die abstrahlt von der Mauer in meinem Rücken. Die Vorhänge in den schlanken Fensternischen bewegen sich leicht im Wind. Die Luft riecht feucht vom gestern gefallenen Regen, dessen Wasser im Erdreich des Pflanzentroges gespeichert ist. Alles, was ich sehe, die Platten aus Zement, welche die Erde halten, die Drähte des Spaliers, die gedrechselten Stäbe des Geländers auf der Terrasse, der verputzte Bogen über dem Durchgang - alles zeigt Spuren der Abnutzung, des Gebrauchs, zeigt Spuren des Wohnens.

Und wenn ich genau hinsehe, beginnen mir die Dinge etwas zu erzählen über ihr Wozu und Warum und über die Art, wie sie hergestellt wurden. Denn all dies tritt in ihrer Form und Präsenz zutage oder liegt in ihrer Form und Präsenz verborgen.«

Die zitierten Texte von Peter Zumthor stammen aus dem Buch: Peter Zumthor Häuser 1979 - 1997, Fotografien von Hélène Binet. Lars Müller, Baden, 1998 (2. Aufl.: Birkhäuser, Basel. Boston. Berlin, 1999).


verfasst von

Peter Zumthor

  • 1943 in Basel geboren
  • Absolvierte zunächst eine Lehre als Möbelschreiner und studierte dann an der Schule für Gestaltung in Basel und am Pratt Institute, New York
  • von 1968 an Architekt der Kantonalen Denkmalpflege Graubünden, bis er 1979 sein eigenes Architekturbüro in Haldenstein, Graubünden gründete
  • er war mehrfach als Lehrer tätig (in den USA, Deutschland, der Schweiz etc.)
  • 1989 Workshopleiter der Sommerakademie in Graz
  • mitarbeitet am Internationalen Ausstellungs- und Dokumentationszentrum »Topographie des Terrors« in Berlin