Wer sich im Mittelalter an einem Baum verging, dem standen drakonische Strafen in Aussicht. So sollten zum Beispiel, da der Bast der Rinde den animalischen Gedärmen gleichgesetzt wurde, dem alten Vergeltungsgesetz entsprechend, als Strafe für das Schälen der Rinde am stehenden Baum dem Täter die Gedärme aus dem Leib gerissen werden. Die schweren Strafen, die allerdings in der Regel nur angedroht und nicht vollzogen wurden, sind nur erklärlich aus der kultischen Identifizierung von Mensch und Baum.
Wenn sich ein Holzhauer heutzutage vor der Fällung eines Baumes bekreuzigt oder drei Kreuze in den Wurzelstock schneidet, so tut er es wahrscheinlich nur noch aus Tradition und Überlieferung heraus. Kaum noch trägt er den Gedanken mit sich, durch diese Geste Baumgeister abzuwehren, oder einer armen Seele Erlösung zu bringen, die anderenfalls im Baumstrunk fortleben müsste, wenn er keine Abbitte leistet. Die Vorstellung, bei der Fällung eines Baumes ihn als Lebewesen selbst oder vielleicht auch den Geist, der in ihm wohnt, zu verletzen, geht auf die vorchristliche Zeit zurück, in der der Mensch zum Verständnis seiner natürlichen Umwelt und der in ihr waltenden Kräfte an das Eingreifen irdischer und höherer Wesen glaubte.
Bis zum Beginn des Mittelalters war Österreich weitgehend mit Wald bedeckt. Großflächig unbewaldete Gebiete fanden sich nur in den Hochlagen der Alpen, kleinflächiger auch entlang der Flussläufe, in Mooren und an weiteren Orten, die aufgrund ihrer extremen Standortbedingungen das Aufkommen geschlossener Waldbestände auf Dauer nicht zuließen.
Aufgrund dieser engen Lebensraumverbindung von Wald und Mensch konnten Baum und Wald zu Kristallisationspunkten von kosmologischen, anthropologischen und religiösen Vorstellungen werden und sich an ihnen viele kultische Bräuche entwickeln. Mit dem hohen Baumstamm verband der Mensch den Gedanken an Alter und Stärke, Langlebigkeit und ständiges Wachstum, mit der Eiche und anderen fruchttragenden Bäumen auch den Gedanken an Fruchtbarkeit, mit Nadelholz immergrünes Fortleben. Auch heute noch tritt der Baum als Symbol des natürlichen, ständigen oder stets wiederkehrenden Wachstums im Brauchtum in mannigfachen Formen in Erscheinung: als Frühjahrsbaum zu Maibeginn, als Mittsommerbaum bei der sommerlichen Sonnenwende, als Erntebaum im Herbst, als Mittwinter- oder Weihnachtsbaum bei der Wintersonnenwende und bei Endwinterfesten. Die Verwendung und die Aufstellung von Bäumen und Zweigen im Jahresablauf sind Ausdruck der Freude über das Wachstum und die Ernte und auch der Wünsche für die künftige Fruchtbarkeit. In der biblischen Vorstellung erscheinen der Paradiesbaum, der Lebensbaum und der Baum der Erkenntnis. Der Wald als Baumgemeinschaft erweckte durch seine Ausdehnung einen noch stärkeren Eindruck von Stärke und Größe.
Aus dieser Empfindung heraus mag die besonders hohe kultische Stellung von Baum und Wald entstanden sein. Der Mensch hat in der Urzeit bei der Beobachtung des allgemeinen Zyklus vom Entstehen, Wachsen und Sterben alles organische Leben, sei es Pflanze, Tier oder Mensch, gleichgesetzt. Die Mythen gingen so weit, dass sie die ersten Menschen aus Bäumen entstehen und beim Tod eines Menschen seine Seele sich in einen Baum verwandeln ließen. Der Vergleich »Der Mensch ist ein Baum« oder auch umgekehrt »Der Baum ist ein Mensch« entsprach dem Glauben der germanischen und slawischen Stämme. Aus dieser Betrachtung ergab sich die Verbundenheit von Mensch und Natur auf gleicher Ebene, die zu einem besonderen Schutz von Wald und Baum geführt hat.
Die ältesten Strafbestimmungen bei frevelhaften Eingriffen der Menschen in Wald und Baum wurden daher auch nicht zum Schutz wirtschaftlicher Interessen erlassen, sondern haben ihren Ursprung in dem Mythos der vorgeschichtlichen Zeit. Ausgangspunkt war der bereits erwähnte Gedanke, dass der Baum von einem Baumgeist bewohnt sei und bei Verletzungen ebenso leide wie ein lebendes Wesen. Besonders weit gehen die uralten Baumfrevelstrafen in den mittelalterlichen Weistümern. Es sind dies die schriftlichen Aufzeichnungen eines einst mündlich gesprochenen Rechtes, das von den Dorfbewohnern selbst erlassen und vollzogen wurde und alle wichtigen Angelegenheiten der Gemeinschaft regelte. Zur Zeit, als sie ausgesprochen wurden, nahm man an, dass der Wipfel den Kopf, die deckende Rinde die Haut und der umwickelnde Bast die Eingeweide des Baumes als eines beseelten, menschlich empfindenden Wesens darstellten.
Nach altrömischer Anschauung bewohnte jeden natürlich erwachsenen Baum, solange er grünte, d.h. solange derselbe lebte, ein göttlicher Schutzgeist (»numen«). Im weiteren Sinn war also auch jeder Natur-Baum, respektive jeder Natur-Wald ein Götterwohnsitz. Diese Bäume waren auch die ersten Göttertempel. Heilige Wälder traten in zwei Formen auf, nämlich als »sacra nemora« und als im höheren Grad der Heiligkeit stehende »luci«. Der Baumbestand jener heiligen Wälder war in der Regel gemischt und von unterschiedlicher Größe. Die Haine waren im römischen Staat den Göttern geweiht und im allgemeinen jeder materiellen Nutzung entzogen, obgleich Opfertiere in denselben zur Weide gingen. Nicht einmal der Besitz der Haine war möglich; sie gehörten somit zu den öffentlichen Wäldern. Die Verehrung des Baumes und der Baumgemeinschaft hat beim einzelnen Baum wie auch beim Hain und beim Wald mannigfachen Ausdruck gefunden. Durch Opfergaben suchten die Volksbräuche die Gunst der Baumgeister zu gewinnen. Opfergaben waren Tiere, Äpfel und andere Früchte, bunter Schmuck und dergleichen, die an den Ästen aufgehängt oder vor oder unter den Baum gelegt wurden.
Nach dem Volksglauben waren neben Steinen, Feuerstellen und Wasserquellen besonders alte, hohe und große Bäume im Wald beliebter Aufenthalts- und Wohnort der verschiedenen Geister und Dämonen. Während sich im Baum nach dem Volksglauben meist nur Einzelgeister und Einzeldämonen aufhielten, waren nach diesem im Wald meist große Scharen von teils guten, teils bösen Naturgeistern anzutreffen (Elfen, Feen, Kobolde, Waldzwerge, Waldgespenster). Der Lebenskreis der guten Geister lag im lichten Eichen-Nadelmischwald und in Laubholzhainen, der der bösen Geister im finsteren Urwald von Tanne, Buche und Fichte. Unter dem Einfluss der Christianisierung wurden manche guten Geister zu bösen erklärt und die Waldgeister galten als arme Seelen.
Bei der Christianisierung stand die katholische Kirche allen mit dem Heidentum verbundenen Riten und Kultobjekten ablehnend gegenüber. Daher wurde das Fällen der den heidnischen Göttern geweihten Bäume als eine der wirkungsvollsten Maßnahmen angesehen, um dabei die Ohnmacht der Götter am offensichtlichsten werden zu lassen. Obwohl die Götter- und Orakelbäume vernichtet und Opfer an den noch verbliebenen Bäumen verboten wurden, konnte doch die Vorstellung von übernatürlichen Wesen im Baum nicht ausgelöscht werden. Dieser Glaube erwies sich als besonders zählebig. Die katholische Kirche hat sich daher später teilweise den alten Vorstellungen angepasst und manche alte, aus der früheren Naturkultur stammende Vorstellung über Bäume und Baumgrün übernommen. Am deutlichsten zeigt sich dies im weihnachtlichen Brauch, aber auch in anderen kirchlichen Feiern im Jahresablauf (Ostern, Mai, Pfingsten). So gehört seit dem Mittelalter die Vorstellung vom Erscheinen der Mutter Gottes im Baum oder Strauch zu einem der wichtigsten Motive im Marienkult.
Quellen
Mantel, K., 1990: Wald und Forst in der Geschichte. Alfeld-Hannover.
Mannhardt. W., 1904: Wald- und Feldkulte. Bd. 1:
Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. Mythologische Untersuchungen, 2. Aufl. Berlin.
Mannhardt. W., 1905: Wald- und Feldkulte. Bd. 2: Antike Wald- und Feldkulte aus nordeuropäischer Überlieferung erläutert. 2. Aufl. Berlin.