Es war ein Wochenende mit befreundeten Familien, Kindern und Jugendlichen. Eine der Mütter hatte eine Kiste mit hunderten Holzstückchen dabei – für den Fall, dass es regnete und mit dem Hinweis: »Wenn die Kids das einmal in die Hände nehmen, sind sie zwei Tage voll beschäftigt, und wir können in Ruhe unseren Yogakurs durchziehen.« Natürlich ging es schon am ersten Abend los, und am nächsten Vormittag waren auch schon zwei Erwachsene mit glühenden Wangen an einem Rekord-versuch beteiligt. Im Foyer des Seminarhotels erhob sich dann eine gut drei Meter hohe, bizarre Struktur, geschichtet, gestapelt, gekeilt und zuletzt noch mit Hilfe einer Leiter aufgetürmt aus diesen zarten, unschein-baren Massivholzplättchen. Jemand bemerkte: »Das ist ja besser als Lego! Viel einfacher, zugleich spannender, weil man mit einem einzigen Systemelement eine unendliche Vielfalt von Figurationen bilden kann.«
Diese erste Turmspirale wurde sofort fotografiert, gleich wieder zerstört und eine zweite, noch ehrgeizigere begonnen, wobei wegen des gegebenen Plafonds nicht die Höhe, sondern die Effizienz und die Phantasie des ersten Versuchs überboten werden sollten. Faszinierend war, wie diese federleichten, griffigen Holzteile in allen erdenklichen Stellungen an- und aufeinander gestapelt werden konnten. Wie bei einem Kartenhaus entpuppten sich Geometrie und Statik des wachsenden Gebildes jeweils spielerisch empirisch, in durchaus spannenden Entwicklungsschritten von »trial & error«.
Dieses KAPLA-Spiel, so erfuhren die Wissbegierigen dann, ist seit zwei Jahrzehnten vor allem in angel-sächsischen und französischen Ländern bekannt; unsere bejubelte Drei-Meter-Skulptur war für den Anfang nicht schlecht gewesen, doch im Guinness Buch der Rekorde steht die Marke für KAPLA-Türme inzwischen bei fünfzehn-einhalb Metern; 1998 hatte eine Spezial-Schau im Louvre mehrere große KAPLA-Konstruktionen präsentiert; im selben Jahr war KAPLA in die Top Ten der »Children’s Creative Products« aufgestiegen; und in Kanada wird es als Lernspiel im Physik-, Mathematik-und Kunstunterricht eingesetzt. Das Besondere an KAPLA ist einerseits die Harmonie von Material, Form und Funktionalität. Die Dimension der simplen Elemente basiert auf der dreidimensionalen Anwendung des Goldenen Schnitts in den ungeraden Zahlen 1 : 3 :5: 15 – Dicke zu Breite verhält sich wie eins zu drei; die Breite dann fünfmal genommen ergibt die Länge, die wiederum misst das Fünfzehnfache der Dicke. Mit 23,5mm ist die Breite fast ident mit den alten Zollmaßen. Die schmalen, gestreckten Proportionen unterscheiden sich signifikant von anderen Baukästen. Sie spiegeln die strukturellen und statischen Merkmale des Materials.
Auch die Handhabung ohne Steck- oder Schraubteile entspricht dem elementaren Charakter der Holzbau-technik, dem einfachen Fügen von linearen Elementen. Andererseits sind die Plättchen extrem maßhaltig und in jeder Richtung in perfekter Orthogonalität gefertigt. Zur Herstellung wird ausschließlich die speziell in Frankreich gezogene Marine Pine (eine mediterrane Kiefernart) verwendet, die diese Präzision der Kanten und der ruhig gemaserten Oberflächen gewährleistet. Erst diese für ein Spiel aus Naturmaterial ungewöhnlichen Qualitäten machen es möglich, ohne jegliche Verbindungen, nur durch einfaches Stapeln und loses Schichten hoch-komplexe Gebilde zu formen. So entstehen mitunter ebenso fragile wie gewagte Kunstwerke, gerät die Statik mehr als einmal in Grenzbereiche. Eine Heraus-forderung für junge und junggebliebene Baukünstler-Innen.
Woher der Name kommt? Der Erfinder des genialen Holzspiels, Tom van der Bruggen, stammt aus Holland, und KAPLA ist eine Abkürzung von KAbouter PLAnkjes, zu Deutsch: »Zwergen-Balken«.