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Miss Baum 2006

2006 war die Ulme „Baum des Jahres“. Ihr Steckbrief: große, asymmetrische und oft raue Blätter, mit einer Spitze oder einem Dreizack. Ihre Äste sind dann und wann mit einer hübschen Korkleiste versehen.

erschienen in
Zuschnitt 23 Holzarten, September 2006
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Sie ist eine Schöne. In ihren lieblichen Schatten lud Malinow den Tschitschikow, um zu philosophieren und sich in dieses oder jenes zu vertiefen.1 Sie trägt ihre Blätter groß, asymmetrisch und oft rau, mit einer Spitze oder einem Dreizack, und ihre Äste sind dann und wann mit einer hübschen Korkleiste versehen. In manchen Dingen ist sie kapriziös, ihre Samen können nur wenige Tage keimen, sie mag es gern feucht und nicht zu hell, sie liebt im Tiefland die Auen und im Gebirge die Schluchten. Nur selten sucht sie die Nähe ihrer Schwestern und treibt sich lieber mit anderen Harthölzern im Wald herum.

Zurzeit ist sie die Schönste. Wie eine Miss unter Bäumen trägt die Ulme den Titel »Baum des Jahres 2006«, 2 gibt sich groß, schlank – und zäh. Sie stützte den Römern die Rebstöcke, fand sich postum in Rädern, Waffen oder Glockenstühlen wieder und zeigt ihre gefällige Zeichnung noch heute an Möbeln, Parketten und Furnieren.

Der eine, der sie besonders liebt, tut dies jedoch aus anderen Gründen. Als echter Gourmet mag sie der Ulmensplintkäfer zum Fressen gern und nützt sie als Kinderstube für seinen Nachwuchs. Dass seine Liebe unerwidert bleibt, liegt vielleicht daran, dass sich in seinem Schlepptau auch noch ein Pilz in der Ulme einnistet. Solcherart erschreckt, verschließt sie sich ganz, klappt alles zu, lässt ihre Leitungen zuwachsen und verdurstet von oben nach unten.

In solchen Fällen, so sagt man, müssen Baum oder Pilz oder Käfer dran glauben, aber wenn es eine andere Lösung gibt, dann vielleicht diese: Als Tischler schätzt Wolfgang Schmidinger 3 das Holz der Ulme und forscht nach einem Lebenselixier für sie. Wenn er Erfolg hat, bekommen die kranken Ulmen saftige Unterstützung von den anderen, gesunden – neuen Mut sozusagen, ihren lieblichen Schatten auch weiterhin zu werfen.

Im Übrigen ließ Tschitschikow den Malinow alleine unter seiner Ulme sitzen und eilte zu dringenderen Geschäften. Vielleicht würde er, wenn der Schmidinger ihn fragte, diesem heute keinen Korb mehr geben.

Text
Esther Pirchner
geboren 1967
arbeitet freiberuflich als Journalistin mit Schwerpunkt Kultur, Lektorin und Autorin

1 Nikolai W. Gogol: Die toten Seelen, Roman, 1855

2 Kuratorium Wald und BMLFUW www.wald.or.at

3www.schmidinger-
moebelbau.at


verfasst von

Esther Pirchner

ist Journalistin mit Schwerpunkt Musik,Lektorin und Autorin von Programmbüchern. 

Erschienen in

Zuschnitt 23
Holzarten

Ahorn, Eiche, Tanne, Zirbe. 
Rund 70 Holzarten beleben nicht nur heimische Wälder, sondern auch das Bauwesen von der Konstruktion bis zum Möbel. Fakten und Geschichten rund um Holzarten und ihre Verwendung.

8,00 €

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Zuschnitt 23 - Holzarten