Von einer Wolke aus betrachtet, gleicht der Bodensee einem Fisch. Die Insel Lindau könnte das Auge sein, die Bregenzer Bucht sein Maul. Manchmal frisst der Fisch Frittatensuppe. Zumindest hat es von der Wolke dort oben den Anschein. An diesen Tagen ist die Bregenzer Bucht übersät mit einem gigantischen Teppich aus Holz, das die Bregenzer Ach oder der Rhein anliefert, der Westwind serviert. Zu dieser Zeit am Ufer des Sees spazieren zu gehen, wird für den passionierten Treibholzsammler zur sagenhaften Schatzsuche. Klein und zierlich liegen sie da, aber auch grob und mächtig. Zerfurcht wie Greisengesichter oder glatt wie mit 1000er-Papier geschliffen. Nur zu gern verortet ihr Finder die Stücke symbolisch im Tierreich. Dabei sind die kleinen Mammuts, Geißenschädel, Dackel oder Vogelpopos mitunter viel phantastischer als ihre tierischen Verwandten. Andere Hölzer reisen gar aus mystischen Welten in Form von Dämonen, Trollen oder Feen an. Es gibt auch ganz einfache Stecken.
Gefunden werden diese Schätze an allen Stränden der Welt. Ihre Geschichte ist kaum nachvollziehbar. Einst zum astreinen Zwecke der Baumwerdung geformt, massierte sie die Natur später in kieseligen Bachbetten, traktierte sie mithilfe von schroffem Fels. Treibholz wird von Brisen bewegt, von Salz gepeelt, von der Sonne zerfurcht, von Möwen bepickt, von Schiffbrüchigen umklammert und von Wellen geschaukelt. Der Regen wäscht es, der Kapitän verflucht es, der Biber verbaut es.
Die Schicksalsgottheit des Treibholzes ist über die Schönheitsideale unserer Designgesellschaft erhaben, sie kreiert eine einzigartige Ästhetik. Dass wir in ihren Skulpturen Benennbares erkennen wollen, ist ihr egal. Im Vergleich zu Fauna und Flora erzeugt sie nämlich wahre Unikate. Treibholz hat dem Kunsthandwerk, das die Stücke gern auf Weihnachtsmärkten versklavt, etwas voraus. Treibholz ist sinnfrei. Und weckt dennoch optische und haptische Begierde. Treibholz ist Materie gewordenes Schicksal: nicht fähig zu empfinden, aber in der Lage, Emotionen zu wecken.
Doch all die hölzernen Vagabunden sind nicht nur dem Romantiker liebe, kleine Freunde. Im holzarmen Island gehörten sie dem Besitzer des Stück Landes, an das sie angeschwemmt wurden, Diebstahl stand unter Strafe. Ganze Wälder aus Russland landeten an den Stränden der Insel. Es gab sogar den Job des Treibholzkäufers. »Real-göttliche« Bedeutung erlangte es bei den Germanen, wo Adam & Eva made in Germany von Odin und Co. aus Treibholz, genauer gesagt aus dem Holz einer Ulme und einer Esche geschnitzt wurden.
Auch im Herrgottswinkel des Verfassers dieser Zeilen hängt ein Stück Treibholz, eine Art Götzenbild der Natur. In ihm ist ein unheimlicher Hund mit langem Leib zu erkennen, der mit großen Augen und einem bösen schiefen Maul über das wacht, was unter ihm geschieht. Der bekannte österreichsche Künstler Lois Weinberger hat den hölzernen Höllenköter gefunden und mit dicker blauer Farbe überzogen. Er sieht aus, als sei er in einen Kessel blitzblauen Pechs getunkt worden. Man könnte Angst vor ihm bekommen, könnte ihn aber auch studieren, sich fragen, wo er wohl herkommt, welche Blüten seine Enden in längst vergangenen Frühlingstagen getragen haben. Stammt der blaue Kerl von einem Baum im Montafon, unter dem einst Ernest Hemingway saß und Forellen fischte. Oder diente der Stamm, aus dem der Ast spross, als Marterpfahl für Indianerspiele? Ritzten unsterblich Verliebte ihr Herz während einer kleinen Ewigkeit in diesen Stamm? Trägt der Ast diesen Moment in sich? Der blaue Hund in seinem Winkel erzählt Geschichten, so wie jeder seiner Artgenossen.
Treibhölzer sind Verwandte der Schneeflocken. Wie sie, sind auch die Holzstücke einzigartig in ihrer Form, lässt die Natur sie irgendwann, irgendwo zur Ruhe kommen. Doch ihr Schicksal ist – abgesehen vom Schlund des Ofens – ein beinahe endloses. Die Bestimmung von Treibholz bleibt unbestimmt. Die Zeit ist sein stetiger Begleiter. Treibholz lässt sich treiben und erfüllt damit eine Sehnsucht der Menschheit. Vielleicht ist das der Punkt. Wer es findet und mitnimmt, wird diese Sehnsucht dadurch nicht befriedigen, aber er ist fähig, sie zu empfinden.
Tipp
Treibholz findet man nicht. Es findet einen. Am besten lässt man sich in Zeiten der Schneeschmelze an Seen blicken oder nach Stürmen an den Stränden der sieben Weltmeere; oder man stakst Bächen und Flüssen entlang. Wer nach einer anderen Möglichkeit sucht, in den Besitz dieser Naturschätze zu kommen, dem sei im Rahmen eines Hamburgbesuchs der Feinkostladen von Frank Wahlbeck namens »Tide« empfohlen. Er bietet neben feinen Happen auch Treibholz von aller Herren Strände an.
»Tide – Treibholz&Feinkost«, Rothestraße 53, Hamburg; www.tide.dk
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© Atelier Gassner, Ruth Gassner / Katharine Weber