Zum Hauptinhalt springen

Wim Delvoye

Die Verfremdung von Oberflächen und das Spiel mit dem Schein und dem Sein sind maßgebliche Faktoren in der Kunst des belgischen Künstlers. Die Arbeit „Beauty is only skin-deep“ steht exemplarisch für diese Methodik.

erschienen in
Zuschnitt 32 Echt falsch, Dezember 2008
Sie besuchen eine Archiv-Seite. Möglicherweise sind nicht alle Darstellungen korrekt.

Beauty is only skin-deep

Die Arbeiten von Wim Delvoye gehören zu den unprätentiösesten und zugleich am schwersten verdaulichen in der zeitgenössischen Kunst. Der Grund für Ersteres liegt in der universellen Formensprache, die auf den ersten Blick leicht verständlich oder zumindest vertraut wirkt. Alltagsgegenstände und Gerätschaften wie zum Beispiel Butangasflaschen oder Betonmischmaschinen sind bekannt, ebenso kirchliche Bauwerke und deren architektonische Unterschiede. Es handelt sich dabei aber nicht um »Ready-mades« (kein vom Künstler geschaffenes, sondern von ihm ohne jedes ästhetische Vorurteil ausgesuchtes Alltagsobjekt), wie sie Marcel Duchamp 1914 erstmals der Kunstwelt vorstellte, sondern um die simultane Auflösung zweier Codes.

Diese Codes resultieren zum einen aus der Erkennbarkeit ihrer alltäglichen Funktion und der zugleich zweckentfremdeten Darstellung dieser Gegenstände durch den Künstler. Delvoye wühlt dabei vor allem in den Stilvariationen der Kunstgeschichte, vorrangig aus der lokalen Tradition der Gotik und des Rokoko. So verzierte er Ende der 1980er Jahre eine Reihe von Butangasflaschen mit romantisch-ländlichen Motiven in Delfter Blau. Im Rokoko-Stil und aus Teakholz gefertigt, folgten Betonmischgeräte und Lkws. Auf der Documenta IX in Kassel (1992) erregte Wim Delvoye Aufsehen mit einem vermeintlich dekorativen Bodenmosaik. Auf den einzelnen Keramikflächen waren im Siebdruckverfahren Kothaufen dargestellt, die aus der Distanz betrachtet wie dekorative Arabesken wirkten.

Weitergeführt wurde dieses Konzept Ende der 1990er Jahre mittels großformatiger Fotografien, die aus der Entfernung wie rötliche Marmorböden nach Vorbildern aus dem Barock oder der arabischen Welt wirkten. Tatsächlich waren es aber sorgfältig zugeschnittene und nach einem geometrischen Muster angeordnete Wurstsorten. Ähnlich spektakulär sind die auf den ersten Blick nicht zu identifizierenden Motive der in Blei gefassten Kirchenfenster, die der Künstler Anfang 2000 zeigte. Statt dem gewohnten Bilderkanon zeigt Delvoye Röntgenbilder von im Liebesakt befindlichen Paaren oder einzelnen Körperausschnitten. Die Umwandlung und Verfremdung von Oberflächen und das Spiel mit dem Schein und dem Sein sind maßgebliche Faktoren in der Kunst des belgischen Künstlers. Die Arbeit »Beauty is only skin-deep« steht somit exemplarisch für diese methodische Herangehensweise. Die metallische Klinge der Handsäge wird vom Künstler mit einer Holztextur versehen und fungiert gleichzeitig als Bildträger für den Text. Die ironische Doppeldeutigkeit dieser Arbeit liegt in der Anspielung auf unservorherrschendes Schönheitsideal und den Irrglauben, sich mittels chirurgischer Operationen ein natürliches, junges Aussehen erkaufen zu können. Holz als wärmender, natürlicher Rohstoff ersetz in diesem Werk die kühle metallische Klinge und gaukelt etwas vor, das es nicht gibt. Die ursprüngliche Materialität der Klinge bleibt Metall, auch wenn sie uns als Holz verkauft wird. Delvoyes Gesellschafts- und Konsumkritik hat ihn schließlich dazu veranlasst, eine Schweinefarm in China zu betreiben. Diese Schweine sind Teil eines utopischen Ganzen, in dessen Umgebung sie wesentlich besser leben als ihre Artgenossen. Auch endet ihr Dasein nicht einfach mit dem Tod, sondern die Kunst verhilft ihnen zur Unsterblichkeit. Unter Betäubung werden sie regelmäßig tätowiert und in einem gewissen Alter geschlachtet. Die Schweine werden danach entweder ausgestopft oder ihre Haut wird über einen Bilderrahmen gespannt und als Kunst weiterverkauft. Die Motive dieser Tattoos führen gleichermaßen unseren Markenwahn wie die religiösen Topoi unserer Weltreligionen ad absurdum. Es sind die Formen vergangener Zeiten sowie die Wünsche und Sehnsüchte von heute, die Wim Delvoye thematisiert und miteinander verbindet.

Foto: © VBK, Wien 2008

Wim Delvoye

geboren 1965 in Wervik, Belgien
lebt und arbeitet in Gent (Belgien) und Peking (China)
www.wimdelvoye.be

Einzelausstellungen (Auswahl)

  • 2008 Wim Delvoye, Ernst Museum (Mücsarnok Nonprofit Kft.), Budapest
  • 2007 Cloaca 2000 – 2007, Casino Luxembourg – Forum d’art contemporain
  • 2006 Galerie Emmanuel Perrotin, Miami
  • 2005 Early Works 1968 – 1971, MAMCO, Genf
  • 2004 Cloaca – New and Improved, The Power Plant, Toronto
  • 2003 Musée d’Art Contemporain, Lyon
  • 2002 Cloaca – New and Improved, New Museum of Contemporary Art, New York

Gruppenausstellungen (Auswahl)

  • 2008 Der eigene Weg, Perspektiven belgischer Kunst, MKM, Duisburg
  • 2007 Art Unlimited, Art 38 Basel
  • 2006 Into Me/Out of Me, P.S.1,
    New York
  • 2005 Big Bang, Centre Pompidou, Paris
  • 2004 Giganten/Giants,
    Den Haag Sculptuur 2004
  • 2003 Phantom der Lust,
    Neue Galerie, Graz
  • 2002 Attachment+, Hogeschool West-Vlaanderen, Brügge

verfasst von

Stefan Tasch

Studium der Kunstgeschichte in Wien und Edinburgh, arbeitet als freier Kurator

Erschienen in

Zuschnitt 32
Echt falsch

Kaum ein Material wird so oft nachgeahmt wie Holz. Was aber bedeutet die Imitation? Ist sie »Lüge« oder nur Werkzeug im ewigen Spiel zwischen Schein und Sein?

8,00 €

Zum Produkt   Download

Zuschnitt 32 - Echt falsch