Wer vom Genfersee her kommend der Rotten (Rhône) flussaufwärts bis Brig folgt, gewinnt den Eindruck, der Kanton Wallis sei nicht viel mehr als ein mächtiges, langgezogenes Bergtal. Doch dieser erste Eindruck gibt ein höchst unvollständiges Bild. Das Wallis ist vor allem durch seine Seitentäler geprägt, jedes davon mit individuellem Charakter. Im Unterwallis wird französisch gesprochen, im Oberwallis östlich von Sierre (Siders) deutsch, d.h. Walliserdeutsch, ein sogenannter höchstalemannischer Dialekt. Das vom Kantonshauptort Sion (Sitten) aus über eine Strasse heute gut zugängliche Val d’Hérens (Ering) bildet einen eigenen Bezirk mit neun Gemeinden, die gemessen an der Fläche von 22.118 ha grösste ist Evolène. Die Gemeinde mit ihren zehn Ortschaften zählt 1680 Einwohner, Evolène selbst 760.
Evolène weist allerlei Eigenarten auf. Es ist bezüglich Flächenausdehnung die viertgrösste Gemeinde der Schweiz. Noch um 1500 waren zwei Drittel der Einwohner deutschsprachig und unterhielten enge Beziehungen zu dem im angrenzenden Italien liegenden Aostatal. Auch heute noch sprechen die Einwohner von Evolène untereinander häufig in einem frankoprovenzalischen Dialekt (Arpitan oder Patois), der anderswo als ausgestorben gilt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Tal touristisch erschlossen und 1857 das erste grosse Hotel (Hôtel de la Dent-Blanche) eröffnet. Augenfällig sind die zahlreichen Blockhausbauten, einige davon eigenartig schmal und bis zu fünf Stockwerke hoch.
Sie stehen auf einem Unterbau aus Stein, der den Keller enthält und das Fundament für den Blockbau bildet. Die Schweizerische Gesellschaft für Kulturgüterschutz beschreibt in einer Publikation das ehedem harte Leben in diesem abgelegenen Tal, wo man in alten Zeiten weitgehend von der Alpwirtschaft und der Viehzucht lebte. Handwerk war gerade für den notwendigen Eigenbedarf gefragt.
Der Hausbau war damals ein zum Teil aus der Not geborenes Gemeinschaftswerk. Man half sich gegenseitig beim Transport der Steine für die Keller, beim Fällen der Bäume, beim Zurichten der Rundhölzer und beim Sägen der Balken – eine aufwändige und zeitraubende Angelegenheit. Oft bauten mehrere Gruppen – beispielsweise Gebrüder und Schwäger – gemeinsam. Deshalb hatten Scheune, Stall und auch Wohnhäuser oft zwei oder drei Besitzer. Bei Stadeln und Speichern konnten dies bis zu zehn Parteien sein. Dass ein Gebäude einem einzelnen Besitzer gehörte, war selten. Man wohnte unter einem Dach, doch je Familie in eigenen Wohnungen. Waren die Erbauer und Besitzer im Stockwerkeigentum zunächst verwandt oder verschwägert, konnte es nach einigen Generationen sehr wohl sein, dass die Bewohner nicht mehr familiär verbunden waren.
Die frühen Blockbauten bestanden aus Rundhölzern, später wurden Halblinge verwendet, Balken aus durch den Kern halbierten Baumstämme. Erst ab dem 19. Jahrhundert kamen Kanthölzer zum Einsatz. Das Holz stammte aus dem eigenen Wald oder wurde als Bürgerholz von der Gemeinde zur Verfügung gestellt. Für das Zurechthauen der Balken diente ursprünglich das Zimmermannsbeil (Deixel), später geschah dies von Hand mit der Spaltsäge und erst mit dem Aufkommen der wasserbetriebenen Genossenschaftssägen erfolgte der Zuschnitt des Holzes mechanisch. Getrocknet wurde das Holz in der Nähe der Baustelle im Freien.
Ein spezieller grosser Balken aus Lärche lag für den First bereit. Fundament und Keller, wurden mit Steinen in Trockenbauweise gemauert und kamen „unter Land“ (unter der Erdoberfläche) zu liegen, damit auch im Sommer die richtige Temperatur und Feuchtigkeit für die Lagerung der Essensvorräte herrschte. Erst ab dieser Ebene wurden die Wohngeschosse im Blockbau hochgezogen. Der angebaute Küchenteil bestand als feuersicherer Trakt (Firhüs) ebenfalls aus Stein und zog sich an den mehrgeschossigen, im Stockwerkeigentum genutzten Bauten oft bis unters Dach hoch. Gedeckt waren die Dächer entweder mit Schindeln oder mit Steinplatten. Türen, Fenster und Möbel stellte der Dorfschreiner her. Nicht selten war die vom Wohnhaus separiert errichtete hölzerne Scheune mit einem gemauerten Stall kombiniert.
Was uns heute als pittoreskes Fotosujet gefällt, war ehedem harte Realität und Notwendigkeit der Bergbauern und Viehzüchter in einer damals fast isolierten Talschaft. Mit handwerklichem Geschick und Erfindungskraft, getragen durch die bauliche Tradition und den Willen, in der familiären und nachbarschaftlichen Gemeinschaft zu überleben, wurden so die ersten „Hochhäuser“ aus Holz gebaut.
Doch die Entwicklung schreitet voran: Bis 2010 soll in Evolène ein von Bund und Kanton unterstütztes Zentrum für Glaziologie und Geologie entstehen. Platz finden wird dieses in einem von Architekt François Roche entworfenen Gebäude aus Holz, das formal an ein „Steinmandli“ anknüpft (jede der vier Etagen hat die Form eines Steins), aber auch die Vertikalität der historischen Blockbauten aufnimmt. Ein solches – und zwar das Haus Ribaupierre aus dem Jahr 1543 – befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft des „Steinmandlis“ und wird als Ausstellungs- und Beherbergungsgebäude integraler Bestandteil des Projekts sein.