Für die meisten sind Kinder ein Synonym für Zukunft und Glück. Bei Carsten Höller stehen die drei Begriffe zunächst für drei voneinander unabhängige Werkphasen. Der Wissenschaftler auf dem Gebiet der Phytopathologie, der Lehre der Pflanzenkrankheiten, hatte mit seiner Habilitation zum Thema »Geruchskommunikation zwischen Insekten« bereits eine akademische Laufbahn eingeschlagen, als er Ende der 1980er Jahre beschloss, in der Kunstwelt Fuß zu fassen. »Zukunft ist wichtiger als Freizeit« oder »Gemeinsam in die Zukunft« lauteten die Titel seiner ersten Arbeiten, die er auf Streichholzhefte sowie auf ein 20 Meter langes Transparent für die Außenwand des Hamburger Kunstvereins drucken ließ. Diese Werkserie ohne eindeutige Autorschaft und Zielrichtung zeigt bereits die offene und ambivalente Struktur, mit der Höller arbeitet. Seine Installationen appellieren nicht an das Bessere im Menschen oder wollen Leitfaden für ein richtigeres Lebenskonzept sein – dafür ist Höller zu sehr Pragmatiker und Visionär zugleich. Ihm geht es um die unmittelbare Selbsterfahrung sowohl psychischer als auch physischer Natur des Rezipienten. Er fordert ihn immer wieder auf, sich an seinen Geräten zu versuchen, diese auszuprobieren und sich dabei gefälligst anzustrengen.
Genau das Gegenteil aber ist der Zielgruppe zu raten, für die »Killing Children«, eine Gruppe von Arbeiten aus dem Jahr 1993 bestimmt war: ein Kinderfahrrad, das mittels Benzinkanister so präpariert ist, dass es beim ersten Pedaltritt in die Luft fliegt, oder ein in Fliegenpilz-Gift getränkter Schnuller sind nur zwei Beispiele aus einem Arsenal an Tötungsfallen, die sich der Künstler ausgedacht hat. Wer sich angesichts solcher Arbeiten moralisch entrüstet, tappt nicht etwa in eine vom Künstler gelegte Falle, sondern ist vielmehr angehalten, sich die Rolle der Kinder in unserer Gesellschaft genauer anzusehen.
Das Opfer-Täter-Geflecht ist nicht Gegenstand dieser Arbeiten. Sie funktionieren vielmehr als Spiegel unserer eigenen Vergangenheit. Der persönliche Erkenntnisgewinn steht im Mittelpunkt, respektive das Wissen um den Verlust unserer ureigenen Sinne. Der erwachsene Mensch, so seine Diagnose, ist sozio-kulturell und politisch überfrachtet und unfähig, sich auf sein frühkindliches Erfahrungsnetz einzulassen. Mit seinen Arbeiten bietet Carsten Höller Abhilfe: In der 1996 konzipierten Ausstellung »Glück«, die sowohl im Hamburger als auch im Kölner Kunstverein zu sehen war, arrangierte er verschiedene »Inseln« der Glückseligkeit, an denen sich die Besucher der Kontemplation hingeben und auf die Suche nach kleinen Glücksmomenten machen durften. Da gab es ein von oben beleuchtetes Aquarium mit einer Aussparung, in die der am Rücken liegende Besucher seinen Kopf stecken und so eins mit der Lebenswelt der Fische sein konnte. Weiters gab es einen Rodelhügel, einen Massagesessel und das hier abgebildete Fluggerät, die allesamt aufgestellt wurden, um sich dem Kontrollverlust hinzugeben. Das Durchbrechen der gewohnten Perspektive und das Gefühl der Schwerelosigkeit lockte viele Besucher zum Fluggerät. Hier konnten sie sich in einer Endlosschleife das frühkindlich unbekümmerte Glück zurückholen.
Carsten Höller
geboren 1961 in Brüssel
Studium der Agrarwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität, Kiel
lebt und arbeitet in Stockholm
Foto
© Carsten Höller / Markus Scholz, Kunstverein Hamburg
Einzelausstellungen (Auswahl)
- 2010 Divided Divided, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, bis 2. Mai 2010
- 2009 Vogel Pilz Mathematik, Esther Schipper, Berlin
Reindeers & Spheres, Gagosian Gallery, Beverly Hills - 2008 The Double Club, Fondazione Prada, London
Carrousel, Kunsthaus Bre- genz, Bregenz - 2007 Double Shadow, Air de Paris, Paris
Carsten Höller & Karsten Höller, Gagosian Gallery, London - 2006 Amusement Park,
mass MoCA, North Adams
The Unilever Series: Carsten Höller, Turbine Hall, Tate Modern, London
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2010 The Monaco Project for the Arts 2010, Ecole Supérieure d’Arts Plastiques de la Ville de Monaco, Monaco, 9. Juli bis 29. August 2010
Les Promesses du Passé, Centre Pompidou, Paris,
14. April bis 19. Juli 2010
Eating the Universe – Vom Essen in der Kunst, Galerie im Taxispalais, Innsbruck, 24. April bis 4. Juli 2010
Crash, Gagosian Gallery, London, bis 1. April 2010