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Belastungstest
Was ist dem Bestand zuzumuten?

Unsere Sicherheitsvorstellungen haben sich verändert, das Bedürfnis nach Sicherheit steigt. Dies spiegelt sich in den heutigen Normen, Gesetzgebungen und Richtlinien wider.

erschienen in
Zuschnitt 42 Obendrauf, Juni 2011
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Der Ingenieurbefund ist die Grundlage für alle weiteren Überlegungen: Welche Lasten kann das Bestandsgebäude noch aufnehmen? Bedarf es zusätzlicher Vergütungen und, wenn ja, in welchem Ausmaß?

Bisher haben wir unseren Gebäudebestand in vielen Überlegun­gen eher vernachlässigt: Er kommt weder im Flächenwidmungsplan vor, noch in der OIB oder den Eurocodes. Das eigentliche Problem aber ist, dass wir noch zu wenig darüber wissen, wie diese Häuser im Erdbebenfall reagieren und wie die einzelnen Bauteile eigent­lich zusammenwirken. Im Zuge einer Nachverdichtung unserer Städte, einer immer virulenter werden­den Bauaufgabe, wird dies aber zu einer drängenden Frage. Wiener Statiker haben dies erkannt und arbeiten nun, gemeinsam mit dem ÖNORM-Institut, an einer ersten ­österreichischen Richtlinie zur Beurteilung von Bestandsbauten.

Was halten die Gründerzeitgebäude aus?

Ein Gebäude aus der Gründerzeit kann den heutigen Sicherheitsvorschriften nicht entsprechen. Das gilt ebenso für Gebäude aus den 1960er oder 1980er Jahren. Die Sicherheitsvorstellungen ­unserer Gesellschaft haben sich verändert, es herrscht ein immer größer werdendes Sicherheitsbedürfnis, und dies spiegelt sich in den heu­tigen Normen, Gesetzgebungen und Richtlinien wider. Wer ein Gründerzeitgebäude umbauen oder nach oben hin erweitern will, kann dessen Tragstruktur nicht ohne Weiteres auf den heutigen Normenstand ertüchtigen. Deshalb hat man sich in Wien darauf geeinigt, dass man Dach­aufbauten errichten darf, die Sicherheit des Bestandes davon aber nicht beeinträchtigt werden darf. Eine neue Auflast ist dann akzeptabel, so die der­zeitige Regelung, wenn maximal 720 kg/m2 und eineinhalb zusätzliche Geschosse hinzukommen sowie die Dippelbaumdecke im obersten Geschoss des Bestandes schubsteif gemacht wird. Das Merkblatt der Stadt Wien zur statischen Vorbemessung bei Dachgeschossausbauten bezieht sich mit seiner fest­gesetzten Obergrenze von 720 kg/m2 – ein experimentell ermittelter Wert – auf Gründerzeithäuser. Dies ist nur in Holz oder einer Kombina­tion aus Stahl und Holz machbar. Bei den Häusern aus den 1950er und 1960er Jahren, die meist statisch aus­gereizter sind als der Gründerzeitbestand, wird ­allein aus Gewichtsgründen oft nur eine Holzbauweise möglich sein.

Erdbebensicherheit

1972 gab es in Seebenstein, 60 km von Wien entfernt, ein Erd­beben, das in Wien mit einer Intensität von 6,5 auf der Richterskala zu spüren war. Bis auf Teile der Balustrade der Wiener Universität, die herabstürzten, sowie lockere Gesimse und Kamine passierte in Wien aber nichts. Wenn Statiker heutzutage versuchen, die Auswirkungen dieses Erdbebens auf die bestehenden Häuser nachzurechnen, kommen sie auf weit größere Schäden. »Die Häuser können mehr, als wir mit heutigen Berechnungs­methoden errechnen können«, sagt Tragwerksplaner Karlheinz Hollinsky. »Die Beurteilung des Bestandes ist bis heute zu wenig erforscht.« Ist die Weichheit der Decken nun gut oder schlecht? Wie ist das Zusammenspiel der einzelnen Bauteile? Noch immer könne man das ­Zusammenspiel von Wand und Decke nicht eindeutig beurteilen, so Hollinsky. Er zum Beispiel halte die Bedeutung der Zwischenwände für überbewertet.

Derzeit erarbeiten Wiener Statiker gemeinsam mit Hochschulprofessoren, der Kammer und Vertretern der Immobilienwirtschaft sowie der großen Gebäudeverwalter am ÖNORM-Institut eine ­on-Regel (onr 24009), in der sie definieren wollen, wie Bestands­bauten zu beurteilen sind. Anfang kommenden Jahres soll diese veröffentlicht werden.

Literatur

… und wenn die ganze Erde bebt … – Überlegungen zum Erdbebenwiderstand von Mauerwerksbauten von der »Maschek-Seite«
Peter Bauer, Erich Kern, Peter Resch
Wien 2010

Erdbebenbeanspruchung eines Gründerzeithauses mit Dachgeschossausbau »leicht« – Ermittlung der Kapazität des Bestandes und Nachweis der horizon­talen Lastabtragung zufolge Zusatzlasten
Alexander Krakora, Peter Bauer, Walter Brusatti, Erich Kern, Dimitrios  Stefanoudakis
Wien 2008

Beide Dokumente können unter www.wien.arching.at ­heruntergeladen werden.

Fachliche Beratung

Dr. Karlheinz Hollinsky
Tragwerksplaner in Wien,
www.hollinsky.at


verfasst von

Anne Isopp

ist freie Architekturjournalistin, -publizistin und Podcasterin in Wien. Sie war von 2009 bis 2020 Chefredakteurin der Zeitschrift Zuschnitt. In ihrem Architekturpodcast Morgenbau spricht sie mit Menschen aus der Baubranche über nachhaltiges Bauen.

Erschienen in

Zuschnitt 42
Obendrauf

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Zuschnitt 42 - Obendrauf