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Von konstruktiver Rationalisierung zum informierten Entwerfen
Multihalle Mannheim und Centre Pompidou­-Metz

erschienen in
Zuschnitt 53 Digitaler Holzbau, März 2014

Die Durchdringung der Architektur mit digitalen Prozessen beschleunigt sich stetig und betrifft immer weitere Teile des Entwerfens, Planens und Bauens. Die Frage, ob digitale Prozesse analoge Verfahren in der Architektur ablösen, wird zunehmend obsolet. Die Frage, wie dies derzeit geschieht und zukünftig geschehen wird, gewinnt dadurch allerdings an Relevanz und an Faszination, denn nie zuvor in der Geschichte der Architektur standen Architekten, Ingenieuren und ausführenden Firmen in einem so kurzen Zeitraum so umfassend neue technische Möglichkeiten zur Verfügung wie heute. Wie häufig in der Baugeschichte ergibt sich jedoch eine gewisse Überschneidungsphase, in der neue Technologien zunächst mehrheitlich als Erweiterung der herkömmlichen Praxis genutzt werden.Parallel dazu entwickeln sich neuartige Ansätze, die den tatsächlichen Potenzialen der Technologie entsprechen und so beginnen, die Praxis selbst zu verändern. In einer solchen Situation befinden wir uns derzeit. Die komplizierte Geometrie, facettenreiche Formensprache und elaborierte Oberflächenartikulation zeitgenössischer Architektur sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der derzeitige Einsatz des Rechners in der Architektur in den meisten Fällen noch keine entwurfsmethodische Neuerung darstellt. Ähnlich, wie eine Vielzahl anderer wegweisender technologischer Veränderungen in der Baugeschichte erst mit erheblicher Verzögerung Auswirkungen auf den maßgeblichen Prozess des Entwerfens hatte, kommt auch der Computer in der derzeitigen architektonischen Praxis zumeist lediglich als leistungsfähiges und effizientes Hilfsmittel in methodisch herkömmlichen Entwurfsverfahren zur Anwendung. Dies trifft interessanterweise gerade auch auf viele Ansätze zu, die allgemein gerne mit dem Etikett »digitale Architektur« versehen werden.

Die populäre Pauschalisierung »digitale Architektur« steht einer differenzierenden Betrachtung des Rechnereinsatzes heute häufig entgegen. Dabei ist diese für die Praxis von großer Relevanz. Wie kann man sich konkret den Unterschied zwischen dem heutigen Stand der computerisierten Planung und den perspektivischen Möglichkeiten des Computational Design, des computerbasierten Entwerfens, vorstellen? Dies wird im Hinblick auf zwei gebaute Beispiele klarer. Das eine wird gerne als Demonstration des heute technisch Machbaren gefeiert, das andere ist 35 Jahre alt und wegweisend. In dieser vergleichenden Betrachtung geht es jedoch nicht um eine Wertung, sondern vielmehr darum, den entwurfsmethodischen Unterschied herauszuarbeiten. Deshalb kann die Auseinandersetzung auch auf einen Teilaspekt der Gebäude fokussieren, nämlich auf Entwurf und Umsetzung des Dachtragwerks. Der Entwurf des Dachs des 2010 fertiggestellten Centre Pompidou-Metz von Shigeru Ban, Jean de Gastines und Arup ist von der Form eines geflochtenen chinesischen Strohhuts inspiriert. Diesem gestalterischen Leitbild folgend, basiert die digitale Formgebung im Wesentlichen auf zwei Komponenten: auf einer definierten Freiformfläche mit hexagonalem Rand und auf einem ebenen, regelmäßigen Kagome-Raster aus Sechs- und Dreiecken, das auf die Freiformfläche projiziert wird. Das so in einer CAD-Software konstruierte, verzerrte und doppelt gekrümmte Konstruktionsraster führt zu einer komplizierten Tragwerksgeometrie, in der jedes der Dachelemente geometrisch unterschiedlich im Raum gekrümmt sein muss. Die digitale Formgebung definiert also zunächst nur die Geometrie des Dachs. Auf die Entwurfsphase folgt ein elaborierter Prozess der Überarbeitung auf dem Weg zur Fertigungsplanung, den man als Post-Rationalisierung der gestalteten Form bezeichnet. Erst in diesem Schritt kommen durch Fachingenieure und besondere Geometriespezialisten computerbasierte Verfahren zum Einsatz, die die a priori definierte Geometrie schrittweise in Richtung Herstellbarkeit zu optimieren versuchen.

Die mehr als hundert durchlaufenden Doppelträger werden dabei automatisiert in 1790 Segmente zerlegt, in drei Arten von Brettschichtholzrohlingen (gerade, einsinnig und zweisinnig gekrümmt) aufgeteilt und für die digitale Fabrikation durch ein CNC-Holzbearbeitungszentrum vorbereitet. Aufgrund des relativ linearen Datenflusses vom Entwurfs-CAD-Modell des Architekten zur CAM-Fertigung beim Hersteller lässt sich allerdings trotz der beachtlichen Ingenieurleistung dieser Rationalisierung nicht vermeiden, dass bis zu 50 Prozent der Brettschichtholzrohlinge zerspant werden müssen, um die definierte Bauteilgeometrie zu erreichen. Die Montage der komplizierten Dachgeometrie auf der Baustelle erfolgt dann durch das schrittweise Zusammensetzen der individuellen Bauteile auf einem Gerüst.

Die ebenfalls doppelt gekrümmte Holzgitterschale der 1975 errichteten Multihalle Mannheim von Frei Otto, Carlfried Mutschler und Arup ging nicht aus einem Entwurfsprozess der Formgebung, sondern der Formfindung hervor. Dieser basiert auf zwei Erkenntnissen: erstens, dass sich durch die Umkehrung der zugbeanspruchten Hängeform eines gleichmaschigen Netzes eine Schalengeometrie ergibt, in der unter Eigenlast keine Biegemomente auftreten, und zweitens, dass sich eine solche Schale durch die Biegeform eines zunächst ebenen Lattenrosts einstellen lässt.

In dem so definierten Möglichkeitenraum kann dann anhand der Veränderung von maßgeblichen Parametern wie zum Beispiel Stichhöhe und Randdefinition des Hängenetzes eine spezifische Gestalt des Dachs gefunden werden. Die Errichtung der Schale auf der Baustelle kann so das Biegeverhalten eines ursprünglich ebenen, quadratmaschigen Gitters mit durchlaufenden Holzlatten nutzen. Dieses muss lediglich an einigen Punkten angehoben werden, nimmt dann aber die spezifische Form durch die Biegung der Holzlatten und die scherenartige Verdrehung der Maschen an. Durch das danach erfolgte Festziehen der Gelenkschrauben, das eine schubsteife Verbindung der Latten gewährleistet, und durch die Befestigung des Gitters an den Auflagerpunkten wird die komplexe Form des weitspannenden Dachs fixiert.

Es ist bemerkenswert, dass im Vergleich zum Centre Pompidou-Metz, das mit sechs Lagen Brettschichtholz mit Querschnitten von je 140 x 440 mm bis zu 50 Meter zu spannen vermag, die Multihalle Mannheim mit nur vier Schnittholzlagen und einem Elementquerschnitt von gerade einmal 50 x 50 mm bis zu 60 Meter Spannweite erreicht. Allerdings kann der Vergleich eines singulären, quantitativen Aspekts wie des Verhältnisses von Tragfähigkeit zu Masse hier nicht im Mittelpunkt stehen. Vielmehr geht es darum, die methodischen Unterschiede zwischen den Entwurfsansätzen aufzuzeigen: die digitale Fortführung der tradierten Hierarchie aus primärer Formgebung mit nachgestellter Rationalisierung einerseits und der von Beginn an informierte Entwurfsprozess andererseits, der die Möglichkeiten der Materialisierung antizipiert und daraus einen Entwurfsspielraum eröffnet. Für unsere Forschungen beziehungsweise die Entwicklung eines integrativen Ansatzes der Form- und Materialwerdung im Computational Design scheinen Arbeiten wie die von Frei Otto daher wegweisender als viele Projekte der derzeitigen Architektur-Avantgarde. Dabei ist es eher unerheblich, dass Frei Otto in seinen Formfindungsprozessen statt Machine Computation – der Nutzung eines Computers – meist Material Computation einsetzte, also die »Berechnung« dem Selbstbildungsprozess im physischen Modell überließ. Vielmehr verweist dies auf das eigentliche Potenzial einer computerbasierten Weiterentwicklung.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel »Architektonische Form- und Materialwerdung am Übergang von Computer Aided zu Computational Design«, erschienen in Detail, Nr. 5/2010, S. 420–425.


verfasst von

Achim Menges

Architekt und Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baukonstruktion an der Universität Stuttgart
www.icd.uni-stuttgart.de

Erschienen in

Zuschnitt 53
Digitaler Holzbau

Der Computer ist längst mehr als nur ein Hilfsmittel, er führt uns in eine neue Welt der Möglichkeiten – man muss nur genau wissen, wohin man will.

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Zuschnitt 53 - Digitaler Holzbau