Der Wald starb nicht. Jedenfalls noch nicht. Dabei hatte er sich in den achtziger Jahren schon hingelegt. Ich sah ihn röcheln. Mit amerikanischen Studenten stand ich im Gegenhang. Dort drüben sah man im Dunkel des satten Grüns weißgraue Flecken. Das waren die kranken Bäume, die ersten. Die Amerikaner betrachteten sie und verstanden meine Empörung nicht. Ihnen war der Wald gründlich wurst, genauer, sie wussten nicht, dass er in unseren Herzen genauso wuchs wie an den Hängen. Kranker Wald führte zu kranken Herzen. Anders herum: Eine Schweiz ohne Wald fühlte sich an wie eine Schweiz ohne Alpen: absurd, tödlich, unvorstellbar.
Wie eine ägyptische Plage schien das Waldsterben über uns gekommen. Von Gott gesandt um unserer konsumistischen Sünden willen. Wie Er später Aids schickte, um unsere Promiskuität zu bestrafen. Kehret um! Der Ruf erschallte in den Zeitungen und in den Parlamenten. Es ging uns nicht der Sprit aus wie bei der Ölkrise von 1973, nein, uns fehlte der Spirit, die Art des richtigen Lebens. Der Wald starb durch uns, für uns, mit uns. Alle wussten: Es wird kein Leben geben nach dem Walde. Die Hysterie und der Aktivismus von damals waren keine Abwehrmaßnahmen, es war Abwehrzauber, Lärm zur Vertreibung der Krank-heit, Angsttriebe, denn es gab kein Rezept dagegen. Ein Hauch von Apokalypse waberte durch den kranken Wald. Der gerechte Untergang wartete den Ungerechten.
Doch das Volk hörte nicht auf des Ökologen Wort. Denn was er predigte, war der Verzicht. Du sollst nicht Auto fahren. Du sollst nicht fliegen. Du sollst nicht verschwenden Öl und Benzin. Du sollst nicht heizen über die Vernunft. Du sollst reinigen deine Abgase. Du sollst nicht begehren deines Nachbarn Swimmingpool. Flicken und Sparen sollst du ehren. Kurz, all die Gebote, die wir heute noch hören in der profanen Kirche der Umweltschützer. Unterdessen ist nicht mehr Waldsterben, sondern Klimaerwärmung die Botschaft der Propheten.
Doch lieber verzichteten wir auf den Wald als auf den Konsum. »Mein Auto fährt auch ohne Wald«, dieser Kampfruf fasst des Volkes Meinung bündig zusammen. Dass der Wald stirbt, ist kein Grund, unser Leben zu ändern, murrten die Leute. Wir haben nichts getan, ihn umzubringen, also darf man auch nicht verlangen, wir müssten nun zu seiner Heilung beitragen. Dass wir betroffen, ja entsetzt waren, musste genügen. Das Waldsterben war ein Problem der Politiker. Die hätten es lösen sollen.
Heute redet niemand mehr vom Waldsterben. Die Seuche ist erloschen. Still und heimlich kam und ging sie. Doch noch ist sie da. Das Waldsterben hinterließ eine Narbe: die Drohung. Die Natur macht nicht mehr mit! Seither weigert sie sich zunehmend, sich anständig zu benehmen. Auf sie ist kein Verlass mehr. Überall droht sie zu kippen. Ihr zusammenarbeitendes Gefüge begann mit dem Waldsterben zum ersten Mal in großem Stil zu wanken. Nun gibt es zu den alten Ängsten, die uns plagen, wie Krieg, Hunger, Flucht und Armut auch eine neue Furcht: die Naturverweigerung. Sie greift an, indem sie flieht. Auf unsere Ausbeutung antwortet sie mit Änderung der Spielregeln. Sie entwindet sich unserer Kontrolle. Die Natur tut blöd, spricht der Volksmund.
Und er hofft auf Wiederholung. Schaut her, sagt er, das Waldsterben war ein Medienspektakel, Schaumschlägerei. So wird es auch mit der Klimaerwärmung sein, Fernsehspuk. Der Wald wächst kräftig und mit ihm stetig auch der Konsum. Beide sind wohlauf. Allerdings ist, was der Kopf behauptet, im Bauch nicht recht verdaulich. Dort nämlich rumort das Waldsterben weiter. Was, wenn die Natur noch blöder tut? Der Wald ist gesund und lässt alle grüßen. Doch in seinem Dunkel hockt lauernd die Drohung.
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© Bruno Klomfar