Wir wollen wissen, was eine multifunktionale Waldwirtschaft ist, welche Eigenschaften des Waldes sind eigentlich von öffentlichem Interesse und was passiert, wenn sich diese Interessen verlagern zum Beispiel weg von der Nutzung hin zum Naturschutz? Wir sprachen mit Karl Hogl, Professor für Wald-, Umwelt- und Ressourcenpolitik, sowie mit Peter Schwarzbauer, Analyst holzbasierter Märkte und ebenfalls Professor an der BOKU Wien.
Was versteht man unter einer multifunktionalen Waldwirtschaft?
Karl Hogl Wald kann unterschiedlichste Wirkungen entfalten und für verschiedenste Zwecke genutzt werden. Auch ein sich selbst überlassener Wald produziert Holz, trägt einen bestimmten Wildtierbestand, regelt den Wasserhaushalt, ist ästhetisch reizvoll und so weiter. Die vielfältigen Waldwirkungen können durch Maßnahmen in Qualität und Menge beeinflusst werden. In diesem Sinne versteht man in Mitteleuropa unter »integrativer« beziehungsweise »multifunktionaler Waldbewirtschaftung« ein forstwirtschaftliches Leitbild oder Konzept, nach dem mehrere, in gewissem Maße auch konkurrierende Wirkungen des Waldes auf einer Fläche zugleich erbracht oder gesichert werden sollen.
Welche Konflikte gibt es durch die Koexistenz der unterschiedlichen Funktionen auf ein und derselben Fläche?
Karl Hogl Der Integration verschiedener »Funktionen«, wir sprechen de facto besser von der Berücksichtigung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen, sind naturgemäß Grenzen, teils enge Grenzen gesetzt. Oft können nicht alle Ansprüche erfüllt werden, wenn die Stärkung einer Wirkung oder Funktion nur mit relevanter Minderung einer anderen möglich ist. Letztlich geht es um das Ringen zwischen konkurrierenden Interessen. Die Konflikte können einseitig oder durch Kompromisse »gelöst« werden oder durch räumlich getrennte Erfüllung (Segregation). Typische Beispiele von Segregation sind die heimischen Naturwaldreservate oder die Kernzonen in National- und Biosphärenparks. Wohin das Pendel in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausschlägt, ist Ergebnis öffentlicher Debatten und politischer Entscheidungen, also auch eine Frage von Machtverhältnissen.
Auch in diesem Jahr gab es wieder große Mengen Schadholz. Haben diese und die damit einhergehenden Verluste der Waldbesitzer einen Einfluss auf die multifunktionale Waldwirtschaft?
Karl Hogl Waldeigentümer haben nicht nur mit geringeren Preisen für ihr Holz zu kämpfen, sondern nach Forstgesetz auch Wiederbewaldungspflichten zu erfüllen. Großflächige Schadereignisse sind für viele Waldeigentümer eine Katastrophe, besonders für Kleinwaldeigentümer, wenn große Teile ihres Besitzes betroffen sind. Deswegen werden Betroffene im Falle solcher Kalamitäten durch Beratung und öffentliche Mittel unterstützt, etwa durch Förderung der Wiederbewaldung.
Peter Schwarzbauer Dazu muss man wissen, dass es Produkte und Dienstleistungen des Waldes gibt, die vermarktbar sind, und solche, die nicht vermarktbar sind. Holz, Schotter und Christbäume etwa sind vermarktbar, Schutz- und Erholungswirkung nur zum Teil. Natürlich haben Waldbesitzer Interesse an Dingen, die sie vermarkten können. Die forstwirtschaftliche Gesamtrechnung der Statistik Austria zeigt, dass 85 Prozent des Produktionswertes der Forstwirtschaft mit der Produktion von Holz und dem Holzzuwachs zu tun haben. Nur 15 Prozent sind andere Produktionswerte. Naturschutz (außerhalb von Vertragsnaturschutz), die Schutzfunktion, die meisten Wohlfahrts- und Erholungswirkungen sind hier nicht enthalten, weil sie nicht vermarktbar sind. Trotzdem kann man, gemessen am ausgewiesenen Produktionswert, ersehen, welche Bedeutung die Nutzfunktion im Kontext einer multifunktionalen Waldwirtschaft hat.
Ist die integrative bzw. multifunktionale Waldbewirtschaftung in allen Ländern Europas Leitbild oder unterscheiden sich andere Länder vom österreichischen Konzept?
Karl Hogl Die Ausgangslagen sind durchaus unterschiedlich: In skandinavischen Staaten wie Finnland werden Wälder überwiegend als Wirtschaftsfaktor und Holzproduktionssystem begriffen. In Mitteleuropa dominiert das Leitbild der multifunktionalen Forstwirtschaft. In Südeuropa wird Wald oft viel stärker als Naturraum betrachtet. Gesellschaftlich dominante Vorstellungen von »richtiger« Waldbehandlung können sich aber auch relativ schnell ändern. In den Niederlanden und im bundesstaatlichen Wald der usa haben wir zum Beispiel einen Umschwung vom Wald als Holzproduktionsstätte hin zum Wald als zu schützendes Ökosystem erlebt. Nicht der Naturschutz hat sich dann weiter in Waldwirtschaft zu integrieren, sondern Holznutzungsinteressen ringen um Integration in das Naturschutzmanagement.
Sie sagen, die Multifunktionalität des Waldes ist auch Gegenstand öffentlicher Diskussion. Welche Entwicklung ist hier zu beobachten?
Karl Hogl Wir erleben weltweit und auch in Österreich schon lange eine Urbanisieung der Gesellschaft. Kollegen der TU München haben schon Ende des vorigen Jahrhunderts für Deutschland gezeigt, dass die Holznutzung im Wald in wesentlichen Teilen der Gesellschaft ausgeblendet wurde, während zugleich der natürliche Rohstoff Holz, Holzprodukte und Wälder sehr geschätzt werden. Sollten Ansprüche an Wald jenseits der Holznutzung künftig zunehmen und sich gewünschte Nutzungsformen zunehmend nicht integrieren lassen, wird sich multifunktional orientierte Forstwirtschaft vielleicht noch mehr als bisher die Frage stellen, welche Ansprüche in welchem Maße noch kompatibel sind und wo die Kapazitätsgrenzen der Wälder liegen. In einem Land wie Österreich, in dem rund 80 Prozent der Waldfläche in Privateigentum sind, bleibt zu fragen, wer letztendlich die Verantwortung für die Flächen zu tragen hat und wie die Motivation zur Wahrnehmung der Verantwortung aufrechterhalten werden soll.
Peter Schwarzbauer Der Anteil jener Eigentümer, die das ökonomische Interesse am Wald verlieren, wird immer größer. Wenn wir die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens erreichen wollen, werden wir versuchen müssen, die Holzproduktion aufrechtzuerhalten. Denn die Kohlenstoffbilanz eines nachhaltig bewirtschafteten Waldes ist über die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet besser als die eines sich selbst überlassenen Waldes; einerseits kann in den aus dem Rohholz erzeugten Holzprodukten Kohlenstoff gespeichert werden, andererseits können durch den Einsatz von Holzprodukten und den Ersatz von fossilbasierten Produkten durch Holzprodukte Emissionen vermieden werden.
Karl Hogl
ist Professor für Wald-, Umwelt- und Ressourcenpolitik an der BOKU Wien
Peter Schwarzbauer
ist Analyst holzbasierter Märkte und Professor an der BOKU Wien
Der Waldentwicklungsplan für Österreich und seine Leitfunktionen
Im Waldentwicklungsplan (WEP) wird österreichweit nach einheitlichen Richtlinien für jede Waldfläche eine sogenannte Leitfunktion festgestellt. Dazu wird das öffentliche Interesse an den genannten Funktionen anhand einer vierteiligen Skala von 0 bis 3 bewertet. Für die Nutzfunktion findet keine solche Feststellung statt. Es wird davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an wirtschaftlicher Nutzung grundsätzlich besonders hoch ist.
Der Waldentwicklungsplan (WEP) dient der Forstbehörde zur vorausschauenden Planung der Waldverhältnisse im Bundesgebiet. Er ist eines der Instrumente, die der Sicherung von Waldfunktionen dienen, insbesondere der Nutz-, Schutz-, Wohlfahrts- und Erholungsfunktion. Andere Funktionen und Wirkungen von Wäldern wie Naturschutz und das Jagdwesen sind in Gesetzgebung und Vollziehung Angelegenheit der Bundesländer.
Im Sinne multifunktionaler Waldbewirtschaftung schließt eine bestimmte Leitfunktion nicht die Erfüllung anderer Funktionen aus. So kann eine Waldfläche mit Schutz als Leitfunktion auch von hohem Interesse für Erholung sein sowie der Holznutzung dienen.