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Das Treppengeländer
Zwischen Zweckerfüllung und ästhetischer Repräsentanz

erschienen in
Zuschnitt 79 Holztreppen, Dezember 2020

Der Treppenforscher Friedrich Mielke beginnt seinen umfassenden Band »Handläufe und Geländer« überraschenderweise mit der Abwesenheit ebendieser: »Im Laufe vieler Jahrhunderte sind Generationen von Nutzern solche Treppen ohne Geländer gestiegen: Kinder, Eltern und Großeltern, Bewohner des Hauses und Fremde. Nie haben Geländer Schutz geboten, es gab keine. Gegen ein mögliches Herabfallen entwickelte man eigene Schutzreaktionen. Statt exogener Sicherheitsvorkehrungen entstand eine endogene Sicherheit. (...) Auf ein Geländer, das nicht vorhanden ist, kann man sich nicht verlassen. Man muss sich selbst vorsehen, hält Distanz zum Rand und steigt, dank des entwickelten inneren Sicherheitsbewusstseins, ungefährdet.«

Die baugeschichtliche Entstehung von Geländern lässt sich Mielke zufolge auf zumindest zwei sehr unterschiedliche Positionen zurückführen: die symbolische und die karitative. Vertreter ersterer sind etwa »Geländer« von Paradetreppen, die als Demonstrationsflächen imperialer Ansprüche gedacht sind und demnach dem Personenkult dienen und weniger der Sicherheit der Steigenden. Ein Beispiel dafür sind etwa die Treppen der Apadana (Audienzsaal) in Persepolis. Der karitative Aspekt lässt sich zurückführen auf die Entstehung der »Hospitale« der Klöster als Fürsorgestätten gegen Anfang des 5. Jahrhunderts. Treppengeländer nahmen hier – so vermutet Mielke – erstmals eine stützende und führende Funktion als Steighilfe ein. Ein weiterer Ursprung dieser karitativen Funktion der Geländer vermutet er im Klosterleben des Mittelalters, wo das Geländer die Sturzgefahr der Mönche reduzieren sollte, die zu ihren nächtlichen Andachten von den im Obergeschoss gelegenen Schlafräumen zum Chor der Kirche herabsteigen mussten.

Der Widerstreit zwischen Zweckerfüllung und ästhetischer Repräsentation durchzieht Mielke zufolge die Jahrhunderte und lässt sich auch heute anhand der folgenden zwei zeitgenössischen Beispiele darstellen.

Umbau Stadtcasino Basel von Herzog & de Meuron

Für zwei Treppenhäuser im Stadtcasino Basel ließen die Architekten Herzog & de Meuron etwa 60 Meter lange Brüstungsabdeckungen und zwei ebenso lange Handläufe aus massivem Eichenholz anfertigen. Dafür wurden die komplexe Geometrie der bestehenden Brüstung und das gesamte Treppenhaus mittels 3D-Scanner vermessen, daraus 340 unterschiedliche Segmente parametrisch programmiert, zu Rohlingen verleimt und schlussendlich mittels CNC-Fräse ausgefräst. Die Brüstungsabdeckung verschwindet unter einem Überzug aus Samt, die beidseitig angeschraubten Handläufe stechen vor dem roten Hintergrund aber umso mehr hervor. Als Ein- und Ausstiegselemente haben sich die Architekten für das wohl klassischste Motiv für den Anfang eines Handlaufs entschieden: die »Schnecke«. Um Mielkes Termini treu zu bleiben: ein ornamentaler Handlauf-Anfänger mit nach unten gerichteten Voluten, die »an eine der beiden Voluten eines ionischen Kapitells« erinnern. Deutlich zu erkennen ist hier ebenfalls die Herstellung mittels CNC-Fräse. Anstatt das historische Zitat lediglich als eine wirtschaftlichere Imitation eines historischen handwerklichen Motivs zu begreifen, entschieden sich Herzog & de Meuron für eine Neuinterpretation, an der der digitale Produktionsprozess ablesbar ist.

Link:

Bürogebäude in Amsterdam von MVRDV

Etwas anders verhält es sich mit den kaskadenartig angeordneten Treppen des 2018 fertiggestellten Bürogebäudes von MVRDV in Amsterdam. Alle fünf Geschosse in der Vertikalen verbindend, wird hier der Treppengang durch die versetzte Anordnung zur bühnenhaften Inszenierung der Menschen im Raum. Als skulpturales Objekt soll sie der informellen Kommunikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dienen. Die Annahme, dass bei der Planung dieser Treppe der repräsentative Gedanke im Vordergrund stand, verstärkt sich durch die Ausführung der als Holzrahmenkonstruktion ausgeführten und mit Eiche verkleideten Brüstung: Auf einen Handlauf wurde gänzlich verzichtet, wodurch zwar ein sehr ästhetisches und reduziertes Erscheinungsbild ermöglicht wird, der Halt der Steigenden jedoch kaum gegeben ist. Mielkes Beschreibung der Merkmale von Repräsentationstreppen ist hierbei äußerst dienlich: »Fast immer sind die Geländer (...) auf optische, nicht auf praktische Wirkung bedacht. In der Regel besitzen sie eine (...) Abdeckung, die stark dimensioniert ist, zu breit und nicht griffig, um von einer Hand erfasst zu werden.
Die abstrakte Macht der Proportion verdrängt das konkrete Verlangen der Bedürftigen. Die Repräsentation dominiert jeden Nutzen.« Auch wenn es sich aus architektonischer und ästhetischer Sicht mit Sicherheit um eine beeindruckende Treppenanlage handelt, lässt sich abschließend feststellen: »Wer die Treppe als Bühne der Präsentation betritt, hat fit zu sein.«

Alle Zitate und der Hinweis auf die Apadana in Persepolis stammen aus: Friedrich Mielke: Handläufe und Geländer. Offizin der Scalalogie, Stamsried 2003.


verfasst von

Linda Lackner

Redakteurin der Zeitschrift Zuschnitt

Erschienen in

Zuschnitt 79
Holztreppen

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8,00 €

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Zuschnitt 79 - Holztreppen