Manchmal klopfen wir unvermittelt auf Holz, um Unglück abzuwenden. Die Geste ist ein seltenes Relikt von Spiritualität. Sie wurzelt in der alten Vorstellung, dass Schutzgeister in Bäumen wohnen und dass wir mit diesen Geistern in Kontakt treten können, wenn wir an die Rinde eines Baums klopfen oder einen Baum umarmen. Könnte es sein, dass das wachsende Interesse am Baumaterial Holz in den Industriegesellschaften auch ein Zeichen von Aberglauben ist? Hoffen wir etwa, dass die Holzgeister uns die Fortführung unserer Lebensweise gestatten und uns Schutz vor den katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels gewähren werden? Schätzen Architekten, Ingenieurinnen, Bauherren, Investorinnen und Politiker Holz, weil es suggeriert, dass das Wachstum weitergehen kann? Hat der Mythos der „erneuerbaren Ressource“ den aus der Moderne stammenden Mythos des „Fortschritts“ abgelöst? Ist Holz das Symbol dafür, dass Greenwashing in der Architektur angekommen ist?
Holz als Baumaterial ist in Mode. Woher rührt seine Anziehungskraft? Erstens ist es ein organisches Material, eine lebende Pflanze. Zweitens ist es ein ideeller Träger kultureller Relevanz. Drittens ist es, als Bauholz, eine Ressource, tote Materie. Der Werkstoff Holz ist für Industriegesellschaften gerade deshalb mit Emotionen aufgeladen, weil die Spannung zwischen diesen Eigenschaften nicht auflösbar ist. Teils tot, teils lebendig – Holz verbindet Materielles und Ideelles, Vergangenheit und Gegenwart, Greifbares und Imaginäres. Diese dreifache Qualität von Holz wurde mir vor einigen Jahren bewusst, während einer Seminarwoche mit meinen Student:innen in Polen. Wir besuchten den Białowieża-Nationalpark, ein riesiges Waldgebiet an der Grenze zwischen Polen und Belarus, das zu den letzten Urwäldern Europas gehört. Die Randzonen wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts genutzt. Seit dem Ende der Volksrepublik Polen im Jahr 1989 steht der Wald größtenteils unter Naturschutz.
Die Kronen der mächtigen Bäume schlossen sich über unseren Köpfen wie ein Dach. Wir genossen den Anblick und den Geruch von modrigem Laub und nasser Rinde, den weichen Boden, das knackende Geräusch der Äste unter unseren Stiefeln. Wir standen unter Bäumen, die seit dem Mittelalter existierten, die Zeugen der Treibjagden russischer Adliger und der Schrecken des Zweiten Weltkriegs waren. Unter uns lag eine mehrere Meter tiefe Humusschicht, deren Grund aus der letzten Eiszeit stammt. Wir neigen dazu, Wälder mit einer Welt zu assoziieren, die es schon vor den Menschen gab und die auch nach dem Ende der Menschheit noch existieren wird, mit anderen Worten mit „Natur“. Dieser Assoziation liegt die Ideologie zugrunde, dass das Menschliche und das Nicht-Menschliche oder, anders ausgedrückt, Kultur und Natur kategorisch voneinander getrennt sind. Diese Ideologie ist ein Produkt der Industrialisierung beziehungsweise der Modernisierung, also jener Epoche, die den Begriff der Natur hervorgebracht hat. Unsere Bewunderung für den Wald ist somit zutiefst ambivalent. Die „Wanderlust“ der Romantik ist untrennbar mit dem Wald verbunden, der Schriftsteller Henry David Thoreau baute sich Mitte des 19. Jahrhunderts eine kleine Holzhütte im Wald, und sein dort entstandenes Buch „Walden, or, Life in the Woods“ ist bis heute richtungweisend für Naturliebhaber:innen. Im späten 18. und 19. Jahrhundert wurden scheinbar unberührte Wälder in vielen Ländern Europas zu Symbolen nationaler Identität. Unsere Bewunderung für den Wald hat aber auch etwas zutiefst Zwiespältiges, geht doch der ästhetische Genuss der Natur Hand in Hand mit der rücksichtslosen Ausbeutung der Wälder. Nationalparks in den Vereinigten Staaten bedienen Naturschutz und Tourismusindustrie, die Wälder Südamerikas werden zur Erschließung von Flächen für den Futter- und Nahrungsmittelanbau abgeholzt. Auch während unserer Reise nach Polen wurden wir Zeugen dieses Phänomens. Wir kamen mit den Inhabern eines Sägewerks ins Gespräch. Sie erzählten von der paradoxen Situation, dass sie, seit die Waldrandzone unter Naturschutz gestellt wurde, keine lokalen Bäume mehr fällen dürfen, sondern importiertes Holz verarbeiten müssen. Mir wurde klar, dass der Preis für den Schutz eines Waldes als Naturreservat von den Menschen bezahlt wird, die im und mit dem Wald leben, viele seit Generationen. Der radikale Schutz der Wälder ist daher zwiespältig. Einerseits verhindert er Kahlschlag und die oft irreversible Schädigung von Ökosystemen, andererseits destabilisiert er die sozialen und kulturellen Systeme, die selbst fragil sind. Die Vorstellung, dass so etwas wie eine „unberührte Natur“ existiert, verfestigt abermals die Ideologie, dass das Menschliche und das Nicht-Menschliche voneinander getrennt sind.
Wie können wir diese Ideologie hinter uns lassen? Vielleicht sollten wir uns in die Lage des Holzes versetzen und dessen Perspektive teilen. Vielleicht sollten wir Holz weder als Objekt der ästhetischen Betrachtung noch als Konsumobjekt wahrnehmen, sondern als eigenständiges Subjekt. Wir sollten Holz als Ressource betrachten, die uns nur zur Verfügung steht, wenn wir sie als fragil, vulnerabel und kostbar behandeln. Holz wächst und altert, es reagiert auf Hitzestress und Wassermangel – wie der Mensch. Und genau wie der Mensch ist es verletzlich und kann verfallen. Holz ist mehr als ein Objekt und mehr als ein Material. Es ist Teil eines Systems, das Menschen und Nicht-Menschen, das Lebendige und das Nicht-Lebendige, umfasst. Betrachten wir Holz, sehen wir auch unser Spiegelbild.
Der Text ist eine gekürzte Fassung des Artikels „Leben mit Holz“, erschienen in:
Touch Wood. Material, Architektur, Zukunft; Carla Ferrer, Thomas Hildebrand, Celina Martinez-Cañavate (Hg.), Zürich 2022, S. 14 – 21.