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Gesteckte Geschichte
Holzpagoden

Statisches Wunder Holzpagode: Nach dem Lastprinzip übereinander gestapelte Holzstücke bilden den widerstandsfähigen konstruktiven Aufbau. Und jedes Pagodengeschoss ist ein für sich abgebundenes Skelett.

erschienen in
Zuschnitt 19 warum stabil?, September 2005
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Statisches Wunder, wäre eine adäquate Kürzestbeschreibung. Die meisten Holzpagoden sind irgendwann Bränden zum Opfer gefallen – in den seltensten Fällen Taifunen oder Erdbeben. Die Pagode in Yingxian/Shansi, 1056 mit einer Höhe von 67m errichtet, hat Granatenbeschuss während des Krieges ebenso standgehalten wie mehreren schweren Erdbeben. In Japan haben wesentlich mehr mehrgeschossige Holzpagoden überdauert – die älteste von 706 –, sie sind niedriger und graziler. Schriftlichen Quellen zufolge wurden Holzpagoden einst weit über 100m hoch gebaut.

Was eine Pagode, die ausschließlich aus übereinander gestapelten Holzstücken besteht, so widerstandsfähig macht, ist ihr konstruktiver Aufbau. Will man das Prinzip verstehen, muss man sich zunächst die kleinste Einheit genauer ansehen. Ein Blick in die Traufe konfrontiert uns mit einer im Laufe der Zeit immer komplexer gewordenen Anhäufung von Balken und Blöcken. Ausgangspunkt war ein großer Block auf jeder Säule, der durch diese Querschnittsvergrößerung des Säulenkopfes die Einbindung von Rähm- und Binderbalken erleichtert hat. Ein Sattelholz, wandparallel auf den Block gelegt, unterstützte das Rähm. Ebenso ließ sich in orthogonaler Richtung verfahren. So konnte die Fußpfette weiter vor die Wand geschoben werden; je tiefer die Traufe, desto effektiver der Wandschutz. Den Sattelhölzern wurden an ihren Enden wiederum kleine Blöcke aufgelegt, um die Auflagefläche zu vergrößern. Nach dem Hebel-prinzip legten die Zimmerleute Lage über Lage und schufen damit die Möglichkeit, immer größere Lasten abzutragen bzw. immer schlanker zu bauen. Zur Stabilisierung der aufgestapelten Blöcke und Kragarme führten sie einen, später mehrere schräge Arme aus dem Gebäudeinneren durch die Konsolenbündel.

Dieses Prinzip der Lastverteilung charakterisiert den gesamten Aufbau einer Pagode. Jedes Pagodengeschoss ist ein für sich abgebundenes Skelett, dessen äußere Begrenzung von zwölf Säulen definiert wird. Zur Verjüngung der Geschosstiefe nach oben hin müssen diese äußeren Säulen immer weiter nach innen verschoben werden. Getragen werden sie von einem Kranz waagrechter Balken, der seinerseits auf den Rofen (Dachschräghölzern) aufliegt. Die Last der Dachhaut auf die äußeren Rofenenden dient als Gegengewicht zur Last der Säulen des nächstfolgenden Geschosses auf die inneren Rofenenden. Die Säulenköpfe sind der Drehpunkt des Hebels. Im obersten Geschoss bildet die reich verzierte Pagodenspitze das Gegengewicht. Diesen Schmuck zu tragen ist die Aufgabe der Mittelsäule, die typisch für die japanische Pagode ist. Anfänglich am Boden stehend, später aufgehängt, wirken die Mittelsäulen wie ein Pendel. Im Zusammenspiel mit den weichen Verbindungen absorbieren sie das zerstörerische Potenzial auch heftiger Erdbeben.

 


verfasst von

Klaus Zwerger

habilitierte sich 2012 zum historischen Holzbau. Er hat fast alle Staaten Europas sowie China und Japan zu Forschungszwecken besucht. 2015 hatte er eine Gastprofessur an der Hosei University in Tokio inne. Er ist Autor mehrerer Bücher.

Erschienen in

Zuschnitt 19
warum stabil?

Erfahrungen, Experimentierfreudigkeit und Fantasie haben seit Jahrhunderten funktional optimierte, faszinierend leichte und fragile Bauwerke entstehen lassen, deren konstruktive Stärke im Wissen um das Wesen des Materials begründet ist, in der vollen Ausschöpfung der Kapazitäten des Holzes, seiner Leichtigkeit, Festigkeit, Weichheit, Gerichtetheit und Nachgiebigkeit, und deren Authentizität bis heute spürbar und inspirierend ist.

8,00 €

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Zuschnitt 19 - warum stabil?