Ornament oder Komplexität
»Nach wie vor ist Ornament das, was man weglassen kann. Es bringt nichts, diesen Loos’schen Ansatz anzuzweifeln. Wir sind nicht in einer historischen Situation, in der wir von der „Wiedereinführung des Ornaments” etwas gewinnen könnten. Das wäre ein anti-analytischer, theoretisch inferiorer Versuch, Symptome mit einem Medikament zu behandeln, Erkenntnis durch Zutaten zu ersetzen.Freilich ist schon Loos’ Standpunkt komplexer, als weithin verstanden wurde. Sein Kampf gegen das Ornament ist nicht ein Kampf für die glatte Fläche, sondern gegen jede Form, die nicht Gedanke ist – und sei es eine glatte Fläche.
Die Zurückweisung des Ornaments bedeutet nicht den Glauben an die simple Lösung. Die simple Lösung gibt es nicht, wenn die Komplexität der konkreten Situation erfasst und aufgearbeitet wird. Selbst wenn alle einander überlagernden Systeme zur Deckung kommen und das Ergebnis scheinbar durchsichtig ist, wird das mehrschichtige Netzwerk sich durch ein Vibrieren verraten.
Architekten können sich entspannen: Wir brauchen Komplexität nicht zu erfinden.«
Hermann Czech, Architekt in Wien
»Obwohl Gottfried Semper das Ornament in einen tektonischen Rahmen zwingen wollte, fließt es über alle Grenzen. Das Wort wurzelt zwar im lateinischen ordo (Ordnung), das Ornament duldet aber kein Maß und keine Struktur. Bei allem Überfluss ist es nicht überflüssig. Die Vitalität des Ornaments hat mit seiner Naturhaftigkeit zu tun. Es schlägt seine Wurzel in die Schichten archaischer technischer Handwerksformen und streckt seine Ranken in Richtung zukünftiger Möglichkeiten der digitalen Herstellung.«
Ákos Moravánszky, Professor für Architekturtheorie an der ETH Zürich
»Stenogramme. Ornamente sind Zeichen und können Symbolkraft haben. Sie ermöglichen uns Zuordnung, Zugehörigkeit und Individualisierung. Gegenwärtig findet das Ornament in der Architektur wieder regen Zuspruch. Das vermehrt auftretende Bedürfnis nach Schmückendem und leistbar gewordenen Produktionsmethoden führen jedoch zu inflationärem Gebrauch.
Damit die Oberfläche nicht zum Oberflächlichen wird, bedarf es entsprechender Reflexion. Baukörper und/oder Raum müssen mit dem Ornament eine unauflösliche Verbindung eingehen.«
Irmgard Frank, Architektin und Professorin im Ruhestand für Raumkunst und Entwerfen an der TU Graz
»Mehr und weniger. Das Ornament ist eine geschenkte Erscheinung, die Möglichkeit einer überraschenden Manifestation: das Tektonische ohne Konstruktion, die Tiefe ohne Raum, die Fantasie ohne Willkür, das Gewebte ohne Weberei, die Dynamik ohne Bewegung, das Leben ohne Atmung, die Form ohne Funktion. Oder genauer, mit der Funktion der Form.
Das Wort Ornament stammt aus dem griechischen Begriff Kosmos, der für Universum, Ordnung und Ornament stand: das Alles und das Wenige. Ornament ist dann ontologisch Plural (wie das Holz, das eher die Hölzer sind). Ornament ist Optimismus in Hochform: weniger und mehr.«
Alberto Alessi, Architekt in Zürich
»Beim Ornament interessiert mich nicht der unnütze Zierrat, nicht das Ausfüllen von Leerstellen an einer stummen Fassade, sondern die Verknotung von Erzählung und Architektur. In Bernardo Baders Fenstergitter für den Islamischen Friedhof Altach verdichten sich beispielsweise die Polygonzüge der Balkenkonstruktion zum Ornament mit sternhaften Bildsymbolen.
Ornamente sind Zwischenwesen, zwischen dem Zwei- und dem Dreidimensionalen, zwischen Zierde und Botschaft, zwischen Abstraktion und dem Gegenständlichen. Ornamente sind immer subjektiv gedacht und gemacht, Muster können zufällig entstehen.«
Reinhard Gassner, angewandter Gestalter in Schlins
[»Ornament ist ein Verbrechen.«] Architekt Adolf Loos schreibt uns: Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie in Ihrem geschätzten Blatte konstatieren würden, daß ich mit dem Wiener Architek ten, der den Ausspruch getan hat: »Ornament ist ein Verbrechen«, nicht identisch bin. Der Verdacht, dies behauptet zu haben, ist gerechtfertigt, da ich vor siebzehn Jahren einen Vortrag gehalten habe, der »Ornament und Verbrechen« betitelt war und in dem ich den psychischen Zusammenhang zwischen Ornament und Kriminalität oder Degene ration (Tätowierung) aufgezeigt habe.
Adolf Loos, Neue Freie Presse vom 26. Mai 1925, Abendblatt, Seite 1
»Natürlich können bloße Materialien schon ornamentalen Charakter entfalten: Das spiegelnde Glas heutiger Fassaden hat ihn, ebenso die Punkte der Verschalungsbretter. Und auch Marmor wird eben immer in einem ganz bestimmten Schnitt und Glanz präsentiert – vielleicht ist dies sogar das raffinierteste Ornament, da hier Naturformen für das Ornament dienstbar gemacht werden.
Geht man davon aus, dass Ornamente wichtige verabredete Systeme von Zeichen waren, stellt sich die Frage, wo diese ›maßgeblichen Stellen‹ heute sind? Die Graffiti haben sicherlich einige dieser ornamentalen Aufgaben übernommen. Möglicherweise sind sie sogar ihre reale Rückkehr.«
Adolf Krischanitz, Architekt in Wien
Wüsste man die Breite des Rapports, hätte man Überblick über die Dimension, wären die Zeichen bekannt, würde das Ende der Anfang sein, könnten Schichten um Schichten freigelegt werden, hörte man Säge oder Schnitzwerkzeug, sähe man nur Palmetten und nicht auch noch Gitterwerk, Mäander und Arabeske in nicht entzifferbarer Ordnung, dann erkennte man Gesetzmäßigkeiten, erahnte Narrationen, liefe mit Hunden oder fände tausend Blumen – wie perfekt wäre das Ornament. Doch so sind es nur Holzwurmgeschichten.
Eva Guttmann, Autorin, Herausgeberin und Verlagsmitarbeiterin in Graz
»Nachdem vor mehr als hundert Jahren die Verwendung des Ornaments bekanntlich zum Verbrechen erklärt wurde, glaubten und glauben noch heute viele Modernisten, dass wir in einer vermehrt ornamentlosen Zeit leben könnten. Das Ornament kann aber auch von seiner etymologischen Bedeutung her nie nicht existieren, denn auch jede noch so schmucklose Fassade hat auch einen semantischen Hintergrund, sie agiert zeichenhaft und will etwas erzählen. Wir leben heute in einer Welt mit ganz vielen Ornamenten, und wenn sie auch noch so abstrahiert werden, es bleiben Ornamente. Loos’ Rüge soll uns deshalb auch weiterhin an einen reflektierten und bedeutungsgeladenen Umgang mit dem Ornament erinnern.«
Walter Angonese, Architekt in Kaltern
»Ich stiege auch ohne Verzierung am Handlauf sicher dem Treppengeländer nach hoch. Die Türe schlösse die Wand auch ohne schön aufgemaltes Pflanzengeflecht ab. Der Tisch stünde auch sicher ohne feine Schnitzerei am Bein. Der Braten würde mich auch ernähren, wenn der Koch nicht kunstvoll Saucenspritzer über den Rand des Kartoffelstockes auf dem Teller verbreitete und der Rotwein schmeckte mir auch aus dem Glas gut, das keine Ziselierung hat. Aber mir gefallen die beiläufigen Zeichen, gesetzt aus Lust und Freude und in der Absicht, sie würden Gemeinsamkeit stiften – zwischen mir und der Designerin und zwischen mir und anderen Menschen, die der Treppe nach oben steigen, die Türe öffnen, an den Tisch sitzen, Braten und Kartoffelstock essen und Wein trinken.«
Köbi Gantenbein, Verleger und Chefredakteur von Hochparterre