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Die Grapevine Structure von Konrad Wachsmann
Ein Konzept im Realitätstest

erschienen in
Zuschnitt 81 Knoten und Verbindungen, Juni 2021

Der deutsch-amerikanische Architekt Konrad Wachsmann setzte sich zeit seines Berufslebens mit den Möglichkeiten der Vorfabrikation und Prä-Robotik, dem Einsatz modularer Strukturen und computerunterstützter Prozessentwürfe auseinander. Sein Fokus galt auch der Suche nach dem universellen Knoten. Legendär sind die Sommerakademien in Salzburg von 1956 bis 1960, eine grundlegende Erfahrung für die damalige junge Architektengeneration wie Friedrich Kurrent, Johannes Spalt und Clemens Holzmeister. In seinem Konzept „Grapevine Structure: Studie einer dynamischen Struktur“ von 1953 schrieb Wachsmann über die Entwicklung eines universellen Bauelements mit Studenten des Chicago Institutes of Design: „Diese Vorstudie befasste sich mit dem Problem, Anschlusspunkte von vertikal und horizontal sich berührenden Konstruktionsteilen durch steife Ecken zu ersetzen, die Stützen als Begriff aufzulösen in gebündelte, sich räumlich ausdehnende Elemente, deren Auflagepunkte in der Mitte zwischen zwei gedachten horizontalen Flächen liegen, die aus Konstruktionsstäben gebildet werden, deren Anschlüsse statisch proportional sich von der Achse der tragenden, gebündelten Konstruktionsteile entfernen.“1

Mit dem Grapevine-Projekt „verräumlicht“ sich der Knoten und wird Teil einer netzartigen Struktur, vergleichbar mit einem Weinstock. Kernstück des Grapevine ist ein 4 mal 4 mal 4 Meter großer virtueller Kubus. Darin eingeschrieben liegen zwei identische pilzförmige Strukturen, punktsymmetrisch gespiegelt, übereinander. In der Mitte des Raums treffen sich die vier „Füße“, die Auflagepunkte der Pilze, und bilden den Schaft. Die beiden Pilze bestehen jeweils aus vier rotationsartig angeordneten, geknickten Balken, die sich im Boden und in der Decke „gabeln“. Konrad Wachsmann nannte es ein „dreischenkliges, schlüsselbeinartiges Gebilde“ mit „steifen Ecken“ und führte weiter aus: „Da jeder Teil [die vier Auflagepunkte] die Tendenz hat, sich von den anderen Teilen wegzubewegen, müssen sie mit kleinen Zuggliedern an jedem Verbindungspunkt zusammengehalten werden und bilden auf diese Weise eine Zugkonstruktion.“2 Ein einziges Konstruktionsteil – bestehend aus 24 Balken, die zu acht Teilen zusammengesetzt sind – generiert die ganze netzartige Struktur. Das GrapevineProjekt ist „Basis weiterer Forschungen“, ein Konzept, das von Fall zu Fall in Abhängigkeit von den verwendeten Materialen (Beton, Stahl, Holz, Kunststoff usw.) und der Fügungstechnik (Schrauben, Nieten, Schneiden, Gießen usw.) zu entwickeln ist. Es ist vielleicht auch nicht ganz zu Ende gedacht und damit ein offenes Projekt.

Zur Biennale in Venedig 2018 wurden die Grapevine-Träger erstmals gebaut. Die Realisierung des Konzepts von Wachsmann wirft grundsätzliche Fragen auf. Es geht um die Überführung, Transformation, Umsetzung einer allgemeinen in eine spezifische, konkrete Lösung mit „gewagten Umstellungen“ wie der Umkehrung, Umwandlung, Uminterpretation von einem auf Zug belasteten Knoten auf einen mittels Verkeilung bzw. Reibung auf Druck belasteten Knoten. In Venedig kam die Rücksichtnahme auf lokale Gegebenheiten wie die Dimension und Tragkraft der Ausladung der Kräne der Vaporetti hinzu, welche schlussendlich die Dimension und damit die Anzahl der Balken bestimmten. Sowohl traditionelle Zimmermannstechniken als auch Robotertechnologien kamen zur Anwendung. Ziel war es, dem Konzept bzw. der Konstruktion die nötige tektonische Kraft, Gestalt und letztendlich einen besonderen Charakter zu verleihen.

Bezugnehmend auf Gottfried Sempers Definition der Tektonik als der „Kunst des Zusammenfügens starrer, stabförmig gestalteter Teile zu einem in sich unverrückbaren System“3 versuchten wir, das abstrakte Konzept von Wachsmann in gebaute Realität umzusetzen. Unsere ersten Versuche der Rekonstruktion direkt aus den Plänen erschienen wie Gummibäume oder Spaghetti, schlaff und lustlos. Erst die Umsetzung als moderne Holzkonstruktion verlieh der Konstruktion die nötige Prägnanz. Die einzelnen Elemente bestehen aus stabförmigen Teilen. Das geneigte, Richtung Mitte gebogene, in sich um 45 Grad verdrehte Element von Wachsmanns Projekt wird durch einen geraden, in sich um 45 Grad verdrehten Stab (mit vier Regelflächen) ersetzt. Dadurch tangieren sich bzw. verkeilen sich die vier rotationsartig angelegten Stäbe im oberen und unteren Drittel zu einem unverrückbaren System. An die Stelle der Zugglieder für die Verbindung der vier Stränge, die Wachsmann zwar skizzierte, aber nicht weiter umschrieb, tritt eine klassische Zimmermannslösung – hoffentlich im Sinne von Konrad Wachsmann.


1 Konrad Wachsmann: Wendepunkt im Bauen, Wiesbaden 1959, S. 194.
2 Manuskript Konrad Wachsmann, AdK Berlin, o.J.
3 Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, München 1860 – 63, S. 248.

Links

Ihre langjährige Auseinandersetzung mit der Arbeit von Konrad Wachsmann haben sie für ihren Beitrag zur Biennale 2018 in Venedig herangezogen. Die Umsetzung erfolgte zusammen mit Marco Pogacnik von der Universität iuav in Venedig und mit digitaler Unterstützung durch Gramazio Kohler Research, ETH Zürich. Die Skulptur wurde in der Schweiz produziert (Erne AG Holzbau), farbig gestrichen (kt.Color), zerlegt, in zwei Kisten nach Venedig transportiert (Planzer Transport ag) und dort wieder zusammengebaut.

Literatur

Konrad Wachsmann and the Grapevine Structure: Marianne Burkhalter, Christian Sumi (Hg.), Zürich 2018


verfasst von

Marianne Burkhalter

Marianne Burkhalter und Christian Sumi gründeten 1984 gemeinsam ihr Atelier Burkhalter Sumi Architekten, das seit einem Generationenwechsel im Jahr 2020 von den einstmaligen Partnern Yves Schihin und Urs Rinklef unter dem Namen Oxid Architektur geführt wird. Sie sind weiterhin im Bereich Architektur, Theorie und Ausstellungen tätig.
www.atelierburkhaltersumi.ch

Christian Sumi

Marianne Burkhalter und Christian Sumi gründeten 1984 gemeinsam ihr Atelier Burkhalter Sumi Architekten, das seit einem Generationenwechsel im Jahr 2020 von den einstmaligen Partnern Yves Schihin und Urs Rinklef unter dem Namen Oxid Architektur geführt wird. Sie sind weiterhin im Bereich Architektur, Theorie und Ausstellungen tätig.
www.atelierburkhaltersumi.ch

Erschienen in

Zuschnitt 81
Knoten und Verbindungen

Bauen mit Holz heißt Verbindungen schaffen. In diesem Zuschnitt zeigen wir, auf welch vielfältige und teils unerwartete Weise sich Holz fügen lässt und warum Knoten mehr sind als der bloße Zusammenschluss einzelner Teile.

8,00 €

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Zuschnitt 81 - Knoten und Verbindungen